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Tiefgang

Was sich die EU lieber nicht beim Inflation Reduction Act abschauen sollte

Jonas Nahm ist momentan in der EU ein gefragter Gesprächspartner – die Kommission von Präsidentin Ursula von der Leyen arbeitet gerade ihren Clean Industrial Deal aus und schaut dabei mit einem Auge in die USA. Wie habt ihr das gemacht mit dem Inflation Reduction Act (IRA)? Da kommt Nahm ins Spiel, der die Biden-Regierung bei der Umsetzung des IRA beraten hat. 370 Milliarden US-Dollar für erneuerbare Energien, Energieeffizienz und E-Mobilität – ein richtiges Industriepaket und nicht „nur“ Klimaschutz wie der Green Deal. So sieht es zumindest ein Großteil der europäischen Industrie. Doch ist der Neid der Europäer überhaupt berechtigt?


Nur in Teilen, sagt Nahm. Nach einem Jahr am Council of Economic Advisers im Weißen Haus ist der Deutsche in den Hochschulbetrieb an die Johns Hopkins School of Advanced International Studies zurückgekehrt. Im Gespräch mit SZ Dossier erklärt er, warum der IRA nicht einfach so auf Europa zu übertragen ist und was man besser machen kann.


Da ist zum Beispiel das Gießkannenprinzip, das langfristig zu Problemen führen könne. Neue Technologien haben zwar Durst nach Geld, doch dass alle Technologien und Lieferkettensegmente wie mit einer Gießkanne gefördert werden, sieht Nahm als große Herausforderung. „Aus europäischer Sicht wird der IRA oft als sehr strategisch beschrieben“, sagt Nahm. Aus seiner Sicht sei der IRA politisch aber sehr limitiert gewesen – auch aufgrund der knappen Mehrheiten im Kongress und Senat.


Diese Limitierung müsse man ernst nehmen. „Da sollte sich die EU genau überlegen, welche Länder in Europa welche Industriezweige haben, wo die Sektoren umgestellt werden müssen, wo auf bestehenden Industrien aufgebaut werden kann und wo neue Industriezweige entstehen müssten“, sagt der Wissenschaftler mit Blick auf den Clean Industrial Deal, den von der Leyen in den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit vorstellen möchte.

Die europäische Industrie wartet derweil gespannt auf die Ausgestaltung des Green Deal 2.0. Schon der Name „Clean Industrial Deal“ gibt die Richtung vor: Klimaschutz und industrielle Wettbewerbsfähigkeit müssen Hand in Hand gehen, sagt etwa Holger Lösch vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) SZ Dossier. Mehr als 1000 Organisationen sprachen sich in der Antwerpen-Erklärung für ein europäisches Industriepaket aus.


Die Energiewende und den Klimawandel als wirtschaftliche Chance zu sehen, das könne man sich auf jeden Fall vom IRA abschauen, sagt Nahm. Doch so auf Wettbewerbsfähigkeit getrimmt, wie er scheint, ist der IRA nach seiner Einschätzung gar nicht: „Für alle möglichen Industrien wird viel Geld ausgegeben, aber es ist überhaupt nicht klar, ob diese alle auf Dauer ohne Subventionen wettbewerbsfähig sind und bleiben.“

Der IRA legt den Fokus klar auf die heimische US-Wirtschaft, unter anderem mit Strafzöllen auf ausländische Produkte und sogenannten Tax Credits, also Steuerabschreibungen. Die laufen allerdings 2032 aus. Werden die Subventionen nicht verlängert, brechen die Industrien wieder weg. Ewig die Industrie begießen, gehe aber auch nicht, sagt Nahm. „Das muss man zeitlich beschränken.“ Industrieförderung müsse langfristig an Konditionen und Zielmarken geknüpft werden.


Diese Grundidee des IRA – Unternehmen mit Tax Credits zu fördern – lässt sich nicht auf den europäischen Clean Industrial Deal übertragen, da Steuern im Kompetenzbereich der Mitgliedsstaaten liegen. „Hinzu kommt, dass wir in Europa mit dem Emissionshandel einen CO₂-Preis fest verankert haben“, sagt Felix Schenuit von der Stiftung Wissenschaft und Politik SZ Dossier. Im Gegensatz zu den Tax Credits sei die Struktur eines solchen Preises beständiger, die europäische Klimapolitik damit langfristig berechenbarer. Die Herausforderung des Green Deal 2.0 liege vielmehr darin, den CO₂-Preis mit strategischer Industriepolitik zu verknüpfen.


Sein Wunsch dabei: Priorisierung statt Gießkanne. „Ich erwarte allerdings nicht, dass die neue Kommission sich mit einer klaren Priorisierung von Technologien durchsetzt“, sagt Schenuit. Das Problem: 27 Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Wirtschaftsmärkten müssen sich darauf einigen, welche Technologien gefördert werden sollen.


Doch genau an diesem Punkt liegt auch eine Chance. In den USA hat sich gezeigt, dass sich durch große Investitionen auch eine unerwartete politische Koalition bilden kann. Obwohl der IRA ausschließlich mit den Stimmen der Demokraten im US-Kongress verabschiedet wurde, befinden sich 60 Prozent der angekündigten IRA-Projekte in republikanisch regierten Bundesstaaten.


Übertragen auf die europäische Industriepolitik ergibt das folgende Leitfrage: Wie kann Industriepolitik so wirken, dass sie bestehende Ungleichheiten zwischen den Mitgliedsstaaten nicht verstärkt? „Konkret heißt das, den Fokus nicht zu sehr auf die großen Wirtschaftsnationen Frankreich und Deutschland zu legen, sondern Mechanismen zu schaffen, die beispielsweise ost- und südeuropäische Länder nicht vernachlässigen“, sagt Schenuit.


Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des Clean Industrial Deal sieht IRA-Experte Nahm Europa gut aufgestellt. Dank der Dynamik zwischen größeren und kleineren Ländern, die oftmals auch ihre Tücken habe, sei die EU offener für eine globale Handelspolitik, auch mit Blick auf China. Im Gegensatz zu den USA schotte sich die EU nicht komplett von der Volksrepublik ab. Aus Sicht von Nahm entscheidend: „Es kann nicht alles in der EU wettbewerbsfähig produziert werden.“ Bastian Mühling

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