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Nutzungsrechte erwerbenDer neue Geist der Arbeitskoalition
Dienstag, 29. April 2025Guten Morgen. Nun liegt es an den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Die CDU hat gestern den Weg für Schwarz-Rot freigemacht, der Kleine Parteitag in Berlin-Neukölln stimmte dem Koalitionsvertrag zu. Sitzungsleiter und Ministerpräsident Michael Kretschmer sprach von einer „überwältigenden Mehrheit“.
„Wir werden in der Wirtschaftspolitik, in der Migrationspolitik, in der Außenpolitik, in der Sicherheitspolitik große Teile unserer Versprechen, die wir abgegeben haben, einlösen können“, sagte CDU-Chef Friedrich Merz. Mehr zu seiner Rede gibt es unten. Gestern gaben die Unionsparteien zudem ihre Kabinettsmitglieder bekannt: Es gab einige Überraschungen. Auch darüber berichten wir heute ausführlich.
In einer Woche findet die Kanzlerwahl statt, am Montag soll laut Merz der Koalitionsvertrag unterschrieben werden und dann will auch die SPD ihre Minister präsentieren.
Willkommen am Platz der Republik.
Was wichtig wird
Friedrich Merz hat gestern während des Kleinen Parteitags der CDU seine designierten Ministerinnen und Minister präsentiert. Auch CSU-Chef Markus Söder stellte die Frauen und Männer vor, die künftig im Kabinett sitzen sollen. Damit stehen die Vertreterinnen und Vertreter der Union fest. Ein Überblick.
Die Vogelperspektive: Viele Namen stammen aus der Fraktion, es sind aber auch viele neue Gesichter dabei. Kaum jemand hat Erfahrung in der Exekutive, dafür kommen zwei Personen aus der Wirtschaft. Auch der Länderproporz ist nicht berücksichtigt: Niedersachsen etwa fehlt in der ersten Reihe, genauso wie Merz' Landesverband Nordrhein-Westfalen. Der Vorsitzende des Arbeitnehmerflügels Dennis Radtke sagte der SZ, er finde es „befremdlich und falsch, dass kein Vertreter der christlich-sozialen Wurzel unserer Partei Teil des Kabinetts ist – das hat es von Adenauer bis Merkel nie gegeben“.
Mit Thorsten Frei (CDU) holt sich Friedrich Merz einen absoluten Vertrauten ins Kanzleramt. Merz verzichtet damit aber darauf, den Posten des ChefBK mit einer Person zu besetzen, die das mitbringt, was ihm selbst fehlt: Regierungserfahrung. Frei war zwar Oberbürgermeister der Stadt Donaueschingen, ein Ministerium hat er aber noch nicht geleitet. Anfang der 2000er-Jahre war er Regierungsrat im Staatsministerium Baden-Württemberg. Gespannt darf man darauf sein, wie Frei sein Amt interpretieren wird – und ob er eine öffentliche Rolle als Merz-Erklärer einnehmen wird wie einst Peter Altmaier zu Merkel-Zeiten. Michael Meister (CDU) soll als Staatsminister im Kanzleramt die Bund-Länder-Beziehungen koordinieren, Christiane Schenderlein (CDU) wird Staatsministerin für Sport und Ehrenamt.
Johann Wadephul (CDU) wird Außenminister. Er war in der Unionsfraktion lange für Auswärtiges und Verteidigung zuständig und in dieser Funktion bereits mit Merz auf Reisen. Bei konkreten Schritten flüchtet er sich bislang schnell ins Ungefähre, berichtet unser Dossier Geoökonomie, etwa beim Taurus oder dem Umgang mit Trump und China. Fest steht aber: Die Differenzen zwischen AA und Kanzleramt dürften ein Ende haben, in beiden Häusern entscheidet künftig die CDU – erstmals seit den 1960er-Jahren. Wadephul will „mit viel Realismus“ an das transatlantische Verhältnis herangehen. Den von Frankreichs Präsident Macron geprägten Ansatz der europäischen Souveränität will er in seiner Arbeit übernehmen. Gunther Krichbaum wird Europa-Staatsminister, Serap Güler (CDU) und Florian Hahn (CSU) Staatsminister.
Katherina Reiche (CDU) ist seit zehn Jahren nicht mehr im Bundestag, sondern als Managerin unterwegs. Nun holt Merz sie als Wirtschaftsministerin in die Politik zurück – wohl auch wegen ihrer Erfahrung mit dem wichtigen Thema Energie. Reiche ist Vorstandschefin der E.on-Tochter Westenergie und Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrates, einem überparteilichen Expertengremium der Bundesregierung. Die Diplom-Chemikerin war 1998 in den Bundestag eingezogen und insgesamt sieben Jahre Parlamentarische Staatssekretärin – erst im Umwelt-, dann im Verkehrsministerium. Reiche ist in Brandenburg geboren, lebt allerdings seit Jahren in NRW. Gitta Connemann wird Parlamentarische Staatssekretärin und Mittelstandsbeauftragte, Stefan Rouenhoff wird Parlamentarischer Staatssekretär.
In Berlin wurde lange gemunkelt, dass Alexander Dobrindt (CSU) als Landesgruppenchef voll in seinem Element sei – und ein Wechsel ins Kabinett daher nicht infrage komme. Nun wird der erfahrene Bayer das Innenressort übernehmen und damit ein Kernthema von Union und CSU besetzen. Darüber hinaus wird er Sprecher der CSU-Minister sein und mit Söder im Koalitionsausschuss sitzen. Der studierte Soziologe wurde insbesondere in den Koalitionsverhandlungen zur Schlüsselfigur, indem er Brücken zur SPD baute. Dobrindt war zwischen 2013 und 2017 Verkehrsminister und gehört seit 2002 dem Bundestag an. Gestern kündigte er an, in der Migrationspolitik direkt Nägel mit Köpfen machen zu wollen, etwa mit mehr Zurückweisungen: Es wird das für ihn entscheidende Thema sein. Christoph de Vries (CDU) und Daniela Ludwig (CSU) sollen Parlamentarische Staatsekretäre werden.
Auch in den kleineren Ressorts gab es Überraschungen. Karsten Wildberger wird Digital- und Staatsmodernisierungsminister. Derzeit ist er noch Chef von Mediamarkt und Saturn, wo er neue Online-Bestellmöglichkeiten auch mal selbst testet. Die Zahlen des Unternehmens sind unter seiner Führung besser geworden. Wildberger ist Physiker und hat über Simulationen der physikalischen Realität promoviert. Seine ersten Schritte in der Wirtschaft hat er bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) gemacht, beim Energieversorger E.on hat er als Vorstand die digitale Transformation vorangetrieben. Mehr zu seinem neuen Haus (und weitere digitalpolitische Ableitungen zu den Personalien) hat heute unser Dossier Digitalwende. Philipp Amthor und Thomas Jarzombek (CDU) werden Parlamentarische Staatssekretäre.
Auch Nina Warken (CDU) ist eine der Überraschungen im neuen Kabinett. Die 45-jährige Juristin aus Baden-Württemberg hatte mit Gesundheitspolitik bisher nicht allzu viel zu tun. Sie war zwar Mitglied im parlamentarischen Begleitgremium zur Covid-19-Pandemie, in den Koalitionsverhandlungen aber Teil der AG Innen. Die beiden Gesundheitspolitiker Tino Sorge und Georg Kippels (CDU) folgen Warken als Parlamentarische Staatsekretäre ins Gesundheitsministerium. Im Ländle werden sie sich indes wohl nach einem Ersatz umschauen müssen. Bislang ist Warken Generalsekretärin ihres Landesverbandes. Nächstes Jahr wird im Südwesten gewählt. Schwer vorstellbar, dass sie als frisch gebackene Ministerin den Wahlkampf organisiert.
Die künftige Bildungs-, Familien- und Frauenministerin Karin Prien (CDU) ist zwar schon Jahrzehnte in der CDU, wurde aber erst 2011 Bürgerschaftsabgeordnete in Hamburg und dann 2017 Kultusministerin in Schleswig-Holstein. Schon der gescheiterte Kanzlerkandidat Armin Laschet hatte sie im Team, danach wurde sie stellvertretende Parteichefin und schnell zur einflussreichsten Bildungspolitikerin der Union. Die in Amsterdam geborene Politikerin aus jüdischer Familie – sie wird die erste jüdische Bundesministerin in der Bundesrepublik – gehört zum liberalen Flügel der CDU und gilt in der AfD und deren Umfeld als linksradikal. Unter anderem, weil sie den Einsatz der Amadeo-Antonio-Stiftung unterstützte und an ihrem Ministerium die Aufschrift „Kein Ort für Neonazis“ anbringen ließ.
Die stellvertretende CSU-Vorsitzende Dorothee Bär (CSU) übernimmt das neue Ministerium für Technologie und Raumfahrt, das die CSU als strategisches Zukunftsministerium ansieht. Bär sitzt seit 2002 im Bundestag, war bei der Bundestagswahl im Februar die bundesweite Erststimmenkönigin und hat bereits Regierungserfahrung als für Digitalisierung zuständige Staatsministerin im Kanzleramt in der letzten Regierungszeit von Angela Merkel. Wie damals wird sie wieder für die Games-Industrie zuständig sein, in erster Linie aber für Raumfahrt, die Förderung von Quantencomputern und künstlicher Intelligenz – und das Unions-Lieblingsprojekt eines Fusionsreaktors, der freilich in Bayern entstehen soll. Matthias Hauer (CDU) und Silke Launert (CSU) sollen Parlamentarische Staatssekretäre werden.
Der neue Verkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) hat viele Milliarden Euro aus dem Haushalt und dem künftigen Infrastruktur-Sondervermögen zu verteilen. Dafür werden aber auch sichtbare Fortschritte bei der maroden Bahn und den Straßen erwartet. Der Rechtsanwalt aus der Eifel kam 2009 in den Bundestag und war vorher zehn Jahre lang Bürgermeister der Eifel-Gemeinde Arzfeld nahe der Grenze zu Belgien und Luxemburg, die ohne Auto nur alle ein bis zwei Stunden per Bus zu erreichen ist. Im Kabinett wird er mit einer Körpergröße von 2,02 Meter selbst den Kanzler überragen. Seinen Podcast nennt er denn auch „Eifelturm Talk“. Christian Hirte (CDU) und Ulrich Lange (CSU) werden Parlamentarische Staatssekretäre.
Der künftige Landwirtschaftsminister und gelernte Metzgermeister aus Niederbayern Alois Rainer (CSU) war zuletzt Vorsitzender des Bundestags-Finanzausschusses. Außer für Bauern, Ernährung und Wälder wird er auch Heimatminister und übernimmt dafür Zuständigkeiten aus dem Innenministerium. CSU-Chef Markus Söder bezeichnete ihn als zuständig für „Bauern, Bürgermeister, Handwerker und Gastronomen.“ Silvia Breher (CDU) und Martina Englhardt-Kopf (CSU) werden Parlamentarische Staatssekretärinnen.
Der künftige Kulturstaatsminister im Kanzleramt Wolfram Weimer ist ein erfahrener Chefredakteur und Medienmanager, in der Kulturszene aber bisher weniger aufgefallen. Der Ex-Chefredakteur von Welt und Focus und Gründer des Magazins Cicero geriet sofort in den Fokus der Parteien links der großen Koalition, weil er sich in seinem Buch „Das konservative Manifest“ von 2018 und anderen Beiträgen als Vordenker im Streit gegen den angeblich „woken“ Zeitgeist profilierte. Die schärfste Kritik noch am Sonntagabend kam vom FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube, der bei Weimer weder Interesse an Kultur noch an Geist sehen will und ihn daher für eine Fehlbesetzung hält.
Immerhin: Eine gute Nachricht hatte SPD-Generalsekretär Matthias Miersch gestern zu verkünden. Das Quorum für den Mitgliederentscheid seiner Partei über den Koalitionsvertrag ist erreicht: Mehr als 20 Prozent der Parteimitglieder hätten bislang teilgenommen, sagte Miersch bei einer Pressekonferenz im Willy-Brandt-Haus gestern. Daran wird die Koalition also nicht scheitern. Wie das Ergebnis ausfällt, erfährt die Öffentlichkeit morgen Vormittag. Ihre Regierungsmannschaft will die SPD laut Miersch am 5. Mai vorstellen – einen Tag vor der Kanzlerwahl.
Nützt ja nichts: Die Nachrichten, die über die Sozialdemokraten zuletzt kursierten, zeichneten nicht unbedingt das Bild einer heiteren Partei. Die Jusos haben schlechte Laune und Parteichef Lars Klingbeil müht sich weiter mit der Frage, wie er selbst ins Kabinett kommt – und Saskia Esken nicht. Miersch gab sich dementsprechend verhalten optimistisch, was das Ergebnis des Mitgliedervotums anbelangt: Auch wenn keine Euphorie feststellbar sei und an der ein oder anderen Stelle noch Misstrauen gegenüber dem Koalitionspartner geäußert werde, gehe er von einer Zustimmung aus. Die SPD hat zwar sieben Ministerien für sich herausgehandelt, aber ein historisch schlechtes Wahlergebnis eingefahren.
Der Arbeitskreis: Um das aufzuarbeiten, habe sich inzwischen eine Kommission unter seiner Führung konstituiert, sagte Miersch. In der Kommission sitzen laut Angaben einer Parteisprecherin 22 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Wie Katarina Barley oder Schatzmeister Dietmar Nietan kommen sie zum Teil aus dem Parteivorstand. Mit dabei sind auch Vertreter der SPD-Grundwertekommission, etwa die Vorsitzende Gesine Schwan oder ihr Stellvertreter Henning Meyer. Auch Juso-Chef Philipp Türmer hat einen Platz. Von der parteinahen Friedrich-Ebert-Stiftung ist Catrina Schläger dabei, die dort das Referat Analyse und Planung leitet. Außerdem steuert der Politikwissenschaftler Thorsten Faas seine Expertise bei, ebenso wie die Politikberater Erik Flügge und Jana Faus. Auch der PR-Experte Raphael Brinkert mischt mit.
Worum es gehen soll: Um die drei P, sagte Miersch: Programm, Parteiorganisation, Personal. Programmatisch müsse sich die SPD an mehreren Stellen neu aufstellen. Man müsse zur Kenntnis nehmen, dass sich die Gesellschaft rasant verändert: Es müsse daher um Zielgruppenansprache und die Frage gehen, ob die SPD Antworten auf Höhe der Zeit habe. Im Bereich Organisation soll es einerseits um die Kommunikation in sozialen Medien gehen, andererseits um die schwindende Repräsentanz vor Ort. Zudem werde es etwa um die Nachwuchsförderung gehen. Bis zum Parteitag soll die Kommission eine erste Projektskizze vorlegen und erste Schwerpunkte benennen. Danach soll in allen drei Themenfeldern der Prozess beginnen, mit dem sich die SPD für die nächste Bundestagswahl 2029 aufstellen will.
Neues zu Esken: Derweil hat der Landesvorstand der SPD Baden-Württemberg Saskia Esken nicht erneut für den Vorstand der Bundespartei nominiert, wie am Abend bekannt wurde. Esken hatte sich aufgrund des laufenden Mitgliedervotums allerdings nicht um eine Nominierung bemüht und kann theoretisch noch durch das Parteipräsidium vorgeschlagen werden. Ob sie als SPD-Chefin weitermacht oder etwa einen Ministerposten übernimmt, ist derzeit noch offen. In der Südwest-SPD war zuletzt ein heftiger Streit um ihre Person entbrannt.
Tiefgang
„Wir können das schaffen“, sagte CDU-Chef Friedrich Merz in seiner Rede auf dem Kleinen Parteitag in Berlin. Ein Seufzen ging durch den Saal im Neuköllner Hotel Estrel, als der künftige Bundeskanzler fast seine Vorvorgängerin Angela Merkel zitierte. Wie vor nunmehr sieben Jahren wird es eine schwarz-rote Koalition sein, die Deutschland ab nächster Woche regieren wird. Die geplante Kanzlerwahl fällt auf den 6. Mai, genau sechs Monate nach dem Ampel-Aus.
Was Merz und seine Partei schaffen wollen, ist nicht weniger als den im Wahlkampf versprochenen Politikwechsel umzusetzen. In der CDU gab es zuletzt Kritik wegen des Koalitionsvertrags, die SPD sei zu gut weggekommen, hieß es. Dem wollte Merz gestern etwas entgegensetzen, ohne jedoch zu viel zu versprechen: Man könne ab der nächsten Woche „neu anfangen, die Probleme unseres Landes Schritt für Schritt zu lösen“, sagte er vor den rund 150 Delegierten. Der Politikwechsel, er kommt häppchenweise.
Gleichzeitig betonte er den Charakter der neuen schwarz-roten Gemeinschaft: den der Arbeitskoalition. „Aber es war insgesamt und ist bis heute keine Euphorie, darüber sind Markus Söder und ich uns übrigens einig“, sagte Merz. Diese Koalition sei kein „gesellschaftspolitisches Projekt“ wie etwa die Ampel. Union und SPD hätten sich auch nicht als Partner gesucht. Angesichts der vielen Herausforderungen sei ohnehin nicht die Zeit für Euphorie, betonte Merz: „Um uns herum wanken die Säulen, auf die wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten so selbstverständlich vertraut haben.“
Merz trat nicht auf, um eine Vision zu präsentieren. Vielmehr sagte er, die Aufgabe der neuen Regierung sei die „Gestaltung der Zukunft aus nüchterner Betrachtung der Gegenwart“. Der scheidende Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hätte es nicht schöner formulieren können. Deutschlands Wirtschaft falle im internationalen Vergleich immer weiter zurück, Europa sei von innen und außen bedroht. Zudem könne sich Berlin nicht mehr der transatlantischen Freundschaft sicher sein.
Soweit die Ausgangslage. „Die Menschen in Deutschland erwarten zu Recht, dass wir das alles ändern“, sagte Merz zu den Erwartungen im Land. Und alle Verhandlerinnen und Verhandler trauten sich das auch zu, wie er hinzufügte. Anschließend beschrieb er seine Vorstellung der Arbeitskoalition: „Wir tun das nicht mit einem verklärten Blick auf ein Projekt, sondern wir tun das mit der handwerklichen Fähigkeit und Bereitschaft zum Regieren“, sagte Merz. Mit der Entschlossenheit zu „schnellen und sichtbaren“ Veränderungen.
Der Bundeskanzler in spe legte auch eine Prioritätenliste vor für diejenigen Fragen, die ihm besonders wichtig sind. Oben steht die äußere Sicherheit Deutschlands, die sei Grundvoraussetzung für alles, sagte Merz. Er inszenierte sich als der außenpolitische und europäische Kanzler, der er werden will: Der russische Angriffskrieg in der Ukraine sei die „größte Herausforderung“, vor der wir „als offene und freiheitliche Gesellschaften in den letzten 75 Jahren gestanden haben“, sagte Merz.
Für die Ukraine-Politik der zukünftigen Regierung sollen drei Grundsätze gelten: In dem Land werden die Freiheit und die europäischen Werte verteidigt. Die Unterstützung der Ukraine sei eine gemeinsame Anstrengung der Europäer und Amerikaner. Für Kyiv dürfe es keinen Diktatfrieden geben.
„Wir sind nicht Kriegspartei und wir wollen es auch nicht werden, aber wir sind auch nicht unbeteiligte Dritte oder gar Vermittler zwischen den Fronten“, sagte Merz. Deutschland stehe „ohne Wenn und Aber“ an der Seite der Ukraine. Seine Regierung werde dafür werben und hoffe, dass man das gemeinsam so sehe – eine Botschaft an den US-Präsidenten Donald Trump.
Er nannte auch die AfD. Die vergangenen Jahre hätten Deutschland von seinem Ziel entfernt, die AfD eine Randerscheinung werden zu lassen, sagte Merz. „Wir haben in großer Ernsthaftigkeit diese Koalitionsverhandlungen geführt“, betonte er. „Uns eint das Ziel, zu zeigen, dass Deutschland aus der politischen Mitte heraus wieder führungsfähig, wieder handlungsfähig, wieder regierungsfähig ist“, sagte Merz. Um eine Unregierbarkeit in einigen Jahren zu vermeiden, müssten die Menschen wieder mit der Regierung zufrieden sein.
Seit nunmehr zehn Jahren beschäftige sich Deutschland mit irregulärer Migration. „Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland und Deutschland wird über Jahre und Jahrzehnte ein Einwanderungsland bleiben“, sagte Merz. „Wir sind das Land, das Einwanderung willkommen heißt“, ergänzte er. Nach der Passage gab es Szenenapplaus. Gerade deshalb müsse Deutschland die irreguläre Migration in den Griff bekommen.
„Wir haben grundlegende Kurskorrekturen, weitere Kurskorrekturen in der Migrationspolitik, vereinbart“, betonte Merz. Ab dem Tag eins werde Deutschland die Staatsgrenzen „noch besser“ kontrollieren, es werde Zurückweisungen „in größerem Umfang“ geben. Darüber hinaus werde die Regierung in Brüssel einen „sehr viel stärker restriktiveren Kurs“ unterstützen. Auch national. Heißt konkret: kein Familiennachzug mehr bei subsidiär Schutzberechtigten, der Start einer „Rückführungsoffensive“, Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien sowie die Abschaffung der Einbürgerung nach drei Jahren.
Als es um die Wirtschaft ging, nutzte Merz die Bühne, um Trump ein Angebot in Sachen Zollpolitik zu machen. „Wir werden auch den Vereinigten Staaten von Amerika anbieten, dass wir am besten auf null gehen bei allen Zollsätzen im gegenseitigen Warenaustausch“, sagte er. Darüber hinaus nannte er die gegenseitige Anerkennung von technologischen Standards, die er verbessern wolle. Doch es ging auch um die Innenpolitik: „Wohlstand ist mein Stichwort“, sagte er. Der Regierung müsse nicht weniger gelingen, als Ludwig Erhards Versprechen vom „Wohlstand für alle“ unter völlig veränderten Bedingungen zu erneuern.
Dabei wird es sicher auch ungemütlich. Die Kritik stimme, sagte Merz, man sei bei einigen Punkten sehr vage geblieben im Koalitionsvertrag. Er nannte etwa die Rente und Pflege. Hier müsse eine neue Balance gefunden werden, die nicht zulasten der jungen Generationen gehe. „Wir müssen aus der Fähigkeit und aus den Ideen unserer Partei heraus weitere Reformen ermöglichen und auch zur Diskussion stellen, die über das hinausgehen, was wir im Koalitionsvertrag aufgeschrieben haben“, forderte Merz.
Damit bereitete er die Delegierten auf den ein oder anderen Konflikt vor, den es noch mit den Sozialdemokraten geben dürfte. Und lobte den Wert von Kompromissen. Diese seien im Falle des Koalitionsvertrags nicht nur verantwortbar. „Es sind Kompromisse, die ich mit gutem Gewissen zur Zustimmung heute empfehlen kann“, sagte er. Mit vereinten Kräften könne es Deutschland aus eigener Kraft schaffen. „Das ist möglich.“
Fast übersehen
Neuer Bundestags-Direktor: Bundestagspräsidentin Julia Klöckner hat Paul Göttke als neuen Direktor des Bundestages vorgeschlagen. Das geht aus einem Schreiben an die Mitarbeitenden der Bundestagsverwaltung hervor, das SZ Dossier vorliegt. Wie Klöckner betonte, sei Göttke seit 20 Jahren im Haus tätig, derzeit als stellvertretender Fraktionsdirektor der Unionsfraktion. Der Wechsel ins Amt des Direktors soll zum 12. Mai erfolgen. „Vordringliche Aufgabe des neuen Direktors wird es sein, gemeinsam die Modernisierung der Bundestagsverwaltung voranzutreiben und dadurch das Parlament in seiner Funktionsfähigkeit zu stärken“, schrieb Klöckner.
Blackout: Weite Teile Spaniens und Portugals waren gestern Abend noch ohne Strom, nachdem das Netz auf der iberischen Halbinsel um 12:33 Uhr Ortszeit nach einer starken Spannungsschwankung zusammengebrochen war. Die Ursache für den größten Stromausfall in der EU seit 2006 war zunächst noch unklar. Ein Cyberangriff wurde laut Bloomberg nicht ausgeschlossen, galt aber nicht als wahrscheinlich. Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez äußerte am Abend Mitgefühl für die Ängste vieler Spanier, die plötzlich ohne Stromversorgung dastanden, konnte aber auch keine Gründe nennen.
Kettenreaktion: Der Stromausfall legte große Teile des Verkehrs lahm, vor allem bei der Bahn und U-Bahnen. In Krankenhäusern und anderen Einrichtungen liefen nur noch die Notstromaggregate, auch Geldautomaten und teilweise das Internet fielen aus. Nachmittags bekamen einige spanische Regionen wieder Strom. Die Spannungsschwankung wurde ausgelöst, als im Netz laut Netzbetreiber Red Electrica die Nachfrage plötzlich zurückgegangen sei. Der Ausfall einer einzigen Leitung könne demnach eine Kettenreaktion auslösen.
Ursachensuche: Der europäische Netzverbund kann solche Schwankungen teilweise auffangen, allerdings gibt es laut Experten zu wenig Leitungskapazität zwischen Frankreich und Spanien. Im konkreten Fall steht aber auch die Frage im Raum, ob das Problem von Frankreich ausging, wo kurz zuvor die Stromproduktion und damit der Export kurzfristig zurückgegangen war. Ein ähnlicher Stromausfall in Deutschland sei „sehr unwahrscheinlich“, sagte derweil der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, am Abend der Tagesschau. Deutschland verfüge über genügend Sicherungssysteme.
Unter eins
Linken-Chef Jan van Aken teilte dem Focus mit, was er von den Merz'schen Ankündigungen hält
Zu guter Letzt
Nach zwei kinderlosen Bundeskanzlern wird Deutschland eine eher kinderreiche Bundesregierung bekommen. Peter Ehrlich berichtet. Friedrich Merz und sechs weitere Ministerinnen und Minister von CDU und CSU haben jeweils drei Kinder, die bisher bekannten Kabinettsmitglieder im Kanzler- und Ministerrang bringen es (einschließlich Boris Pistorius und Lars Klingbeil) laut öffentlich zugänglicher Daten auf 29 Kinder (und ein paar Enkel gibt es auch).
Groß ist dagegen die Kontinuität bei den Berufsprofilen: Die Juristen stellen vom Kanzler angefangen die größte Gruppe im Kabinett, danach kommen Politikwissenschaft und Soziologie. Mit der künftigen Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (Chemikerin) und Digitalminister Karsten Wildberger (Physiker) sind immerhin zwei Naturwissenschaftler vertreten. Viele sind schon so lange in der Politik, dass man sie getrost als Berufspolitiker bezeichnen kann.
Die Ausnahme bei den Berufen ist der künftige Landwirtschafts- und Heimatminister Alois Rainer. Der CSU-Politiker ist gelernter Metzgermeister. Rainer kommt aber auch aus einer Politikerfamilie, sein Vater war ebenfalls im Bundestag. Wie es ist, plötzlich Minister zu werden, hat Rainer bei seiner großen Schwester erlebt: Gerda Hasselfeldt wurde 1989 Bauministerin unter anderem mit dem Hinweis des damaligen Kanzlers Helmut Kohl, sie habe ja gerade ein Haus gebaut. Rainers Parteichef Markus Söder nannte ihn den „Bodenständigen“ der drei CSU-Minister und gab ihm das Motto „Leberkäs statt Tofu-Tümelei“ mit auf den Weg.
Die spannendste Personalie für Boulevardmedien ist allerdings, dass die künftige Wirtschaftsministerin seit einiger Zeit mit einem ihrer Vorgänger liiert ist: dem früheren CSU-Politiker Karl-Theodor zu Guttenberg. Da bietet das Kabinett des zehnten Kanzlers eine echte beziehungspolitische Innovation.