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Briefing

Platz der Republik,

Politik im Kassensturz

Guten Morgen. Mit dieser Ausgabe verabschieden wir uns für ein paar Wochen in die Sommerpause. Genießen Sie Sonne, Muße – und wenn Sie mögen – auch ein wenig Abstand von der Politik.

Wir nutzen die Zeit, um im Hintergrund einige Dinge zu überdenken und zu überarbeiten. Im September sind wir zurück mit einem leicht veränderten Kleid. Es bleibt Ihr Morgenblick auf die Republik und die Welt.

1.

Der Zoll-Deal mit der US-Regierung aus dieser Woche ist das teuerste Sicherheitsbündnis, das Europa jemals eingegangen ist. Bis 2035 wollen die EU-Staaten jährlich fünf Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung und Sicherheitskosten aufwenden, eine historische Eskalation der Budgets. Dazu kommen pauschal 15 Prozent US-Zölle auf nahezu alle europäischen Exporte, deutlich mehr als bisher. Parallel hat die EU über 600 Milliarden Dollar an Investitionen in den USA und bis zu 750 Milliarden Dollar für Energieabnahmen aus den USA zugesagt – rechtlich nicht bindend, praktisch aber politisch schwer umkehrbar.

Über den Daumen gerechnet: Zugesichert hat das alles Ursula von der Leyen, mit Zustimmung des Bundeskanzlers, der wie andere EU-Spitzen in ihre Golfplatz-Verhandlungen mit Donald Trump eingebunden war. Im Gegenzug erhält Europa das, was es bislang für selbstverständlich hielt, nicht einmal formell garantiert: Sicherheit. Leise Kritik an der Verhandlungsführung und am Ergebnis kontern Kommissionsbeamte wie Regierungskreise mit der Gefahr im Raum: dass Trump eskaliert.

Die Rechnung ist deutlich: Es ist ein Kassensturz der europäischen Illusionen. Sicherheit gibt es nicht umsonst. Sie verlangt eine politische Debatte darüber, wie hoch die Kosten sind und wer sie trägt. Sollte dieser Kompromiss der Anfang der zu oft beschworenen europäischen Souveränität sein, dann nur mit einem Blick auf diese Kosten: finanziell wie politisch.

2.

Die Bundesregierung plant für 2026 ein Defizit von 3,6 Prozent des BIP, eine Nettokreditaufnahme von rund 143 Milliarden Euro und setzt auf Sondervermögen von fast 900 Milliarden Euro. In Brüssel löst diese deutliche Abweichung vom Stabilitäts- und Wachstumspakt keine Aufregung aus – weil es Deutschland ist, das hier alle Grenzwerte reißt. Nicht etwa Griechenland, Platz 19 der europäischen Volkswirtschaften, das mit einer unsoliden Haushaltspolitik einiges anrichten könnte.

Ein Defizitverfahren wird es nicht geben. Die Kommission fordert seit Jahren mehr deutsche Investitionen, Berlin liefert nun – endlich, aus Brüsseler Sicht. „Man wird Deutschland kaum für Maßnahmen belangen, die wir seit Jahren ausdrücklich befürwortet haben“, sagte ein EU-Beamter. Die neuen Regeln des Stabilitätspakts geben den Rahmen vor: Entscheidend ist nicht mehr das jährliche Defizit, sondern der Ausgabenpfad über mehrere Jahre.

Deutschland nutzt alle Spielräume: von der Verteidigungsklausel über eine zweijährige Ausnahme von der Schuldenreduktion bis hin zu optimistischeren Annahmen über das Wachstum. EU-Wirtschaftskommissar Valdis Dombrovskis stellte in der Financial Times klar: Ein Verfahren sei „voraussichtlich“ nicht zu erwarten. Auch hinter verschlossenen Türen gibt es daran wenig Zweifel: In der Kommission gilt die Prüfung als Formsache. Jean-Claude Junckers Formel für Frankreich gilt nun auch für Deutschland: Parce que c’est l’Allemagne weil es Deutschland ist.

3.

Katherina Reiche stieß eine Debatte an, die sich im Herbst mit Ansage verschärfen wird – über die Kosten und Tragfähigkeit der Sozialsysteme, allen voran der Rentenversicherung. Die Wirtschaftsministerin forderte am Wochenende in der FAZ ein höheres Renteneintrittsalter und bekräftigte das in dieser Woche: „Die reflexhaften Reaktionen bestärken mich darin, dass es notwendig ist, diese Debatte zu führen“, sagte sie zum steifen Gegenwind – von der SPD erwartbar, von der eigenen Partei bemerkenswert heftig, vom Bundeskanzler machtbewusst.

Wie man Probleme vertagt: Die Wissenschaft fordert in einer Übereinstimmung, wie sie sonst höchstens in Klimafragen zu beobachten ist, das Thema ehrlich anzugehen. Friedrich Merz ließ den Regierungssprecher Stefan Kornelius umgehend klarstellen, dass die Koalition keine Erhöhung des Rentenalters plane. Aus dem Arbeitnehmerflügel der CDU kam eine Forderung nach Reiches Rücktritt. Wirtschaftsliberale Parteifreunde schwiegen. Ein längst angedeutetes Muster in der Union wird dadurch noch deutlicher: Wenn es ernst wird, entscheidet der Bundeskanzler sich fürs Regieren, nicht für Politik.

Klarheit ist kein Geschenk, sondern eine Zumutung. Sie zwingt dazu, Entscheidungen zu treffen, in Brüssel, Berlin und anderswo. Weil sie selten willkommen ist, wird sie lieber verschoben. Umso einfacher, wenn die Absenderin, wie Reiche, außerhalb des inneren Führungszirkels steht: Sie hat das Briefing nicht bekommen – Reformen erst, wenn der Wählerauftrag gefühlt dafür ausreicht, also womöglich gar nicht. Die Devise lautet: Hauptsache durchkommen.

4.

Außenminister Johann Wadephul (CDU) ist zu einer schwierigen Mission in Israel. Er forderte die israelische Regierung auf, „sicheren Zugang für UN und internationale Hilfsorganisationen“ in den Gazastreifen zu ermöglichen. „Nur über den Landweg können Hilfsgüter die Menschen in ausreichender Menge erreichen“, sagte Wadephul. Das Leiden in Gaza habe „unfassbare Dimensionen angenommen“.

Drei Ebenen der Schwierigkeit: Zum einen fällt es westlichen Partnern zunehmend schwer, auf Israel politischen Druck auszuüben, ohne dabei die Sicherheit des Landes infragezustellen. Zweitens verschärft die katastrophale humanitäre Lage im Gazastreifen die Dringlichkeit der Mission. Drittens stößt die vorsichtige Neuausrichtung der deutschen Nahostpolitik – mit deutlicherer Kritik an Israel – auch in der Koalition selbst auf Widerstände.

Keine Anerkennung Palästinas: Wadephul stellte klar, dass Deutschland, anders als Frankreich oder Großbritannien, nicht an eine Anerkennung eines palästinensischen Staates denke. Eine verhandelte Zweistaatenlösung bleibe der einzige Weg zu Frieden und Sicherheit – das ist einer der Punkte, die einige, auch prominente, SPD-Abgeordnete beginnen, anders zu sehen. Deutschland dringe, sagte Wadephul, zugleich auf die Freilassung der Geiseln durch die Hamas und deren Entwaffnung. „Von ihr darf nie wieder eine Bedrohung für Israel ausgehen.“

Drohnen werden das prägende Waffensystem kommender Kriege. Europa muss eigene Systeme entwickeln – schnell, in großer Zahl und möglichst unabhängig von außereuropäischen Lieferketten.

Noch ist die Bundeswehr auf Partner angewiesen. Seit 2024 fliegt sie mit geleasten israelischen Heron-TP-Aufklärungsdrohnen, die bis zur Einführung der Eurodrohne ab 2030 im Einsatz sein sollen. Im April schloss die Bundeswehr zudem Verträge mit zwei Herstellern sogenannter Loitering Munition ab.

Loitering Munition, auch Kamikazedrohne genannt, kreist länger über einer Zielregion – und stürzt sich auf das Ziel, sobald sie es mithilfe bordeigener Sensoren und intelligenter Software ausgemacht hat. Dabei zerstört sie das Ziel und sich selbst. Man habe genug beschafft, um „umfassende Tests und Erprobungen für einen längeren Zeitraum in der Truppe“ durchführen zu können, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums SZ Dossier. Bis 2029 sollen außerdem Deep-Strike-Drohnen folgen, die wie unbemannte Kampfflugzeuge Ziele weit hinter der Front angreifen können.

Parallel formiert sich eine neue Drohnen-Industrie in Europa – und sie wächst mit hohem Tempo. Mehrere deutsche Start-ups wie Helsing¸ Tytan, Stark und Quantum entwickeln in Konkurrenz zu den traditionellen Rüstungskonzernen Kampf- und Aufklärungsdrohnen.

Alle vier Startups sind in der Ukraine aktiv, wo ihre Drohnen im Einsatz an der Front sind oder live getestet werden, auch für Europas Militär. Helsing produziert etwa die KI-Drohne HX-2, die die Ukraine nutzt, und Tytan KI-gestützte Drohnenabwehrsysteme. Stark hat eine Senkrechtstarter-Kamikazedrohne namens Virtus mit KI-unterstützter Software entwickelt und in der Ukraine getestet.

„Der Fokus liegt klar auf dem europäischen und Nato-Markt“, sagt Stark-Manager Josef Kranawetvogl – und betont die strategische Bedeutung lokaler Lieferketten: Der Datenlink kommt von Radionor aus Norwegen, der Gefechtskopf kommt von TDW in Deutschland. Mit TDW gab Stark am Freitag einen Vertrag zur gemeinsamen Entwicklung neuer Hochleistungs-Gefechtsköpfe bekannt.

Die Grundidee: europäische Produktion mit kurzen Wegen und verlässlichen Partnern. München sei ein starkes Luftfahrtzentrum, sagt Kranawetvogl. „Da nutzen wir die Expertise und den Arbeitsmarkt.“ Gleichzeitig kündigte Stark jüngst Investitionen in Großbritannien an.

Ziel ist eine resiliente europäische Drohnenproduktion – und der Bruch mit der jahrzehntelangen Abhängigkeit von außereuropäischen Technologien. Ganz ohne China geht es allerdings nicht. Bei Rohstoffen wie Seltenen Erden oder bei Mikrochips gibt es bislang keine vollständige Alternative. „Europa versucht aber, mehr dieser Grundstoffe für die Elektronik etwa aus Australien oder Indien zu beziehen“, sagt Kranawetvogl.

Für die Chips gibt es auf dem Weltmarkt nicht so viele Hersteller. Die meisten nutzen laut Kranawetvogl Nvidia-Chips. „Wir sind an Alternativen dran, zum Beispiel vom Zentrum für Luft- und Raumfahrt, die eine eigene Chip-Herstellung haben – oder von MBDA, die für ihre Lenkflugkörper eigene Chips entwickeln können.“ Doch das dauere Jahre. „Es ist also nicht möglich, darauf zu warten, wenn man schnell ein Produkt auf den Markt bringen will.“

Schnelligkeit ist das, was alle Militärs derzeit nachfragen, denn der Krieg verlangt nach ständiger Neuerung. Die Innovationszyklen seien geradezu schwindelerregend, sagt Marie-Christine von Hahn, Hauptgeschäftsführerin vom Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie (BDLI).

Die Nachfrage wird auch nicht plötzlich versiegen. Wegen der schnellen Innovation kann man Drohnen nicht einfach in großer Menge einlagern wie Artilleriemunition. Sie veralten viel zu schnell. Bei vielen Manövern wird zudem mit scharfer Loitering-Munition geübt, wobei sich die Kamikazedrohnen eben auftragsgemäß zerstören – und daher immer wieder ersetzt werden müssen.

Leser und Leserinnen unseres Dossiers Geoökonomie konnten diesen Text als Erste lesen.

von Christiane Kühl

5.

Wo deutscher Druck noch wirkt: Unter dem Druck westlicher Partner und nach einer Welle öffentlicher Proteste hat das ukrainische Parlament die Unabhängigkeit zweier zentraler Antikorruptionsbehörden wiederhergestellt. Präsident Wolodimir Selenskij hatte den Gesetzentwurf eingebracht. Es kehrt ein in der Vorwoche im Eilverfahren beschlossenes Gesetz um, das das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Spezielle Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAPO) faktisch der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt hätte.

Signal an die Partner: Für die Ukraine ist der Rückzieher eine notwendige Konzession an die westlichen Geld- und Waffenlieferanten. Gerade für Berlin, Brüssel und Washington bedeutete die zuvor beschlossene Schwächung der Antikorruptionsbehörden ein eigenes politisches Risiko: Unterstützung in Milliardenhöhe lässt sich gegenüber eigenen Wählern nur rechtfertigen, wenn die Ukraine glaubwürdig Reformstandards einhält und saubere Mittelverwendung garantiert.

6.

Streit um Palantir: Nachdem zuerst der Stern darüber berichtet hatte, dass Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) prüfen lässt, ob die Analyse-Software Vera des US-Tech-Unternehmens Palantir bundesweit genutzt werden könnte, haben sich kritische Reaktionen angesammelt. Zuvorderst meldete sich Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz zu Wort. Er kritisierte unter anderem die Nähe von Palantir zum Weißen Haus.

Firmen-Mitgründer Peter Thiel ist wegen seiner ultralibertären Ansichten eine umstrittene Figur. Die Regierungskoalition wolle Daten nun „in Wildwestmanier“ an die Sicherheitsunternehmen dieser Welt „verschleudern“, sagte Erik Tuchtfeld, Co-Vorsitzender von D64, unserem Dossier Digitalwende. „Mit Palantir soll dabei ausgerechnet die Software von Trump-Buddy Peter Thiel zum Einsatz kommen.“ Der Einsatz einer solchen Software sei „eine Gefahr für die Freiheit der hier lebenden Menschen und für die Souveränität Deutschlands“.

7.

Das Interesse an der Truppe ist höher als erwartet. Von Januar bis zum 22. Juli stieg die Zahl der militärischen Einstellungen bei der Bundeswehr um 28 Prozent auf 13 739. Es ist der höchste Wert seit Jahren, wie Georg Ismar in der SZberichtet. Auch die Zahl der freiwillig Wehrdienstleistenden erreichte mit 11 400 den höchsten Stand seit einem Jahrzehnt. Laut internen Daten aus dem Verteidigungsministerium dürfte das Ziel von 20 000 Neueinstellungen im laufenden Jahr deutlich übertroffen werden. Besonders stark wuchs das Interesse bei Mannschaften und Feldwebeln, die Zahl der Bewerbungen stieg um acht Prozent auf rund 36 000.

Die Abschiebezahlen steigen und die Zugangszahlen sinken deutlich. Das Motto lautet: weniger rein, mehr raus.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder beschreibt seine Vorstellung von Migrationspolitik

Debatten über Deutschlands Rolle im Nahostkonflikt ändern nichts am Leid in Gaza. Übrigens auch nicht an der Politik in Jerusalem, noch weniger am Terror der Hamas. Die Frage ist: Wie kann man wirksam sein?

Bemerkenswert, was in Hannover passiert: Der Präsident der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, der Vorsitzende der Palästinensischen Gemeinde und Oberbürgermeister Belit Onay wollen gemeinsam 20 schwer traumatisierte Kinder aufnehmen, palästinensische wie israelische. Auch das löst keine Konflikte. Aber es hilft Kindern, die Hilfe brauchen.

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