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Briefing

Platz der Republik,

Global unterwegs, daheim nicht ganz sortiert

Guten Morgen. Außenminister Johann Wadephul, seine Amtskollegen aus Frankreich und Großbritannien und die EU-Außenbeauftragte treffen heute in Genf den Außenminister Irans, Abbas Araghchi: Die Europäer hoffen immer noch auf eine Verhandlungslösung, um iranische Träume von einer Atomwaffe zu begrenzen.

Vor zehn Jahren einigten sich Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die USA, Russland, China und Iran auf eine Vereinbarung. Der Iran hätte seine Atomanreicherung demnach auf zivile Zwecke beschränken müssen, die westlichen Sanktionen wurden im Gegenzug aufgehoben.

So nah war Europa nie daran, sich in der Region einflussreich vorzukommen. Was erklärt, wie verklärt manche Dinge in Brüssel bis heute gesehen werden – bis zum Punkt, wo es gelegentlich etwas durcheinander geht: Der Böse war für viele Donald Trump, der das Abkommen in seiner ersten Amtszeit aufkündigte; nicht das Regime in Teheran, das sich laufend und gezielt über Auflagen hinwegsetzte.

Willkommen am Platz der Republik.

1.

Der Bundeskanzler könnte aus dieser Woche Lehren für die kommende ziehen, wenn er zum Nato-Gipfel nach Den Haag und weiter zum Europäischen Rat nach Brüssel reist: Die Stelle des Anführers des Westens ist weiterhin ausgeschrieben. Und die Hoffnung, sich mit den USA unterzuhaken – etwa bei den neuen Sanktionen gegen Russland, die die EU gerade vorbereitet – sollten die Europäer besser hintanstellen.

Ein existenzieller Gipfel: US-Präsident Donald Trump hat auf dem G7-Gipfel deutlich gemacht, dass er kein Interesse daran hat, die Gruppe westlicher Demokratien zu führen – schon gar nicht gegen Russland, das er wieder am Tisch sehen möchte. Auch für die Nato, die kommende Woche tagt, gilt das in kaum geringerem Maße: Trump sieht das Bündnis als Kostenstelle, nicht als Wertegemeinschaft. Das ist bekannt – aber manche glauben es immer noch nicht.

Europas Aufgaben: Die jüngsten Überlegungen zum US-Eingreifen in den Krieg laufen auf Entscheidungen des US-Oberbefehlshabers hinaus – nicht des Anführers der freien Welt. Das heißt auch: Strategische Autonomie ist kein französisches Hobby mehr – sondern eine Aufgabe, die Europa annehmen muss. Mit den fünf Prozent Wirtschaftsleistung für Verteidigung, die die Allianz kommende Woche beschließen will, ist zumindest das Geld dafür da.

Alles MAGA? Dass die Isolationisten in Trumps Umgebung sich durchsetzen, ist übrigens nicht gesagt. Gerade in dieser Woche war ein Kampf darum zu beobachten, was „America first“ eigentlich heißt. Der TV-Host Tucker Carlson und der republikanische Senator Ted Cruz trugen ihn lautstark im Fernsehen aus: Die Welt ihre Konflikte selbst lösen zu lassen – oder ein Regime zu bombardieren und nachhaltig zu schwächen, das nicht nur Israel die Vernichtung angekündigt hat, sondern für das „Tod den USA“ ein geläufiger Slogan ist.

2.

Mehr Deutsche unterstützen ein Fünf-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben, als es ablehnen. Das zeigt eine repräsentative Umfrage von YouGov im Auftrag von SZ Dossier. Demnach sind 45 Prozent dafür, dass Deutschland seine Verteidigungsausgaben auf bis zu fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht – 37 Prozent sind dagegen. Vorgesehen sind künftig 3,5 Prozent für Militärausgaben und 1,5 Prozent für militärisch nutzbare Infrastruktur.

Klare Unterschiede zeigen sich entlang politischer Linien: Unter Wählerinnen und Wählern von Union (60 Prozent), SPD (57 Prozent) und Grünen (54 Prozent) gibt es jeweils mehrheitliche Zustimmung. Anhängerinnen und Anhänger von AfD (54 Prozent) und Linken (52 Prozent) lehnen das Vorhaben mehrheitlich ab.

Wer für höhere Verteidigungsausgaben ist

in Kooperation mit

YouGov

Kürzen bitte anderswo: Wenn es um die Frage geht, woher das Geld kommen soll, zeigen sich bekannte Muster. Ein Teil der geplanten Ausgaben ist durch das schwarz-rot-grüne Sondervermögen gedeckt – doch wo es nicht reicht, würden viele Bürgerinnen und Bürger vor allem dort kürzen, wo es sie selbst möglichst wenig trifft: bei Entwicklungshilfe und Kultur.

Auch die Streichliste variiert je nach Parteipräferenz: Entwicklungshilfe ist mit Abstand der häufigste Vorschlag – 54 Prozent der Unions-, 44 Prozent der SPD- und 24 Prozent der Grünen-Wähler würden hier kürzen. Es folgen Kultur (32, 23, 18 Prozent) sowie Umwelt- und Klimaschutz (22, 17, 5 Prozent). Auffällig: 41 Prozent der Grünen-Anhänger geben an, in keinem der abgefragten Bereiche sparen zu wollen. Bei der SPD sind es 36, bei der Union nur 19 Prozent.

3.

Am Dienstag sollen – noch vor der Abreise des Kanzlers zum Nato-Gipfel – drei eng verschränkte Vorhaben durchs Kabinett: der Haushaltsentwurf 2025, Eckwerte für 2026 und die mittelfristige Finanzplanung bis 2029. Letztere wird Aufschluss geben über Prioritäten, auch wenn die Not schon größer war als nach der schwarz-roten Verabredung, alle Schuldengrenzen zu ignorieren – solange das viele Geld für Praktisches ausgegeben wird und nicht für Eis für alle.

Bye, Flughöhe: Ohne eine genauere Befassung – womöglich etwas intensiver als zuletzt – mit den Befindlichkeiten daheim, wären die nächsten Tage für den Bundeskanzler kaum zu meistern.

Ein Arbeitskreis dreht hoch: Am besten übers Wochenende soll eine Arbeitsgruppe Ergebnisse vorlegen – entscheidend dafür, ob Friedrich Merz den ersten Meilenstein seiner Kanzlerschaft erreicht. Die Bundesminister Lars Klingbeil und Thorsten Frei, die Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und Olaf Lies, sollen eine Einigung mit den Ländern über Kompensationen verhandeln – für die haushaltswirksamen Folgen des Investitions-Sofortprogramms.

Regierungsziel: Es gilt, den Vermittlungsausschuss zu vermeiden, das Versprechen der raschen Umsetzung zu halten – und sich gleichzeitig nicht aussackeln zu lassen, wie man am Tegernsee sagt.

Basis, hilf: Ganz nebenbei nehmen auch die Hinweise der SPD auf ihre Parteibasis wieder zu – und damit auf das Schlagwort „Gerechtigkeit“ sowie auf Ausgabenwünsche, die der Sozialdemokratie diesem Ziel zuträglich scheinen. Am kommenden Wochenende steht der SPD-Parteitag an. In der Union gilt das manchem als Anlass für einige Tage rhetorischer Selbstbeschränkung – zumindest innenpolitisch. Die „Drecksarbeit“ des Bundeskanzlers muss ohnehin vorerst niemand übertrumpfen.

Wer Menschen für Klimaschutz gewinnen will, muss ihnen bezahlbare, verlässliche Energie liefern – davon ist die britische Regierung überzeugt. Energiepolitik ist Hebel, nicht Beiwerk. „Letztlich wollen alle Erschwinglichkeit und Verlässlichkeit in ihrer Energie“, sagt Rachel Kyte, Klimasonderbeauftragte der britischen Regierung, im Gespräch mit SZ Dossier. „Wenn wir das mit sauberer Energie hinbekommen, gibt es keine Opposition zu Netto-Null.“

Deshalb hat die Labour-Regierung von Premierminister Keir Starmer nach ihrem Amtsantritt den Fokus auf die Transformation des Energiesystems gelegt. „Konkret bedeutet das: Erneuerbare Energien vorantreiben, aber auch dafür zu sorgen, dass das Energienetz zuverlässig ist und die Effizienz und Effektivität maximiert wird“, sagt Kyte. Technisches Wissen könne auch exportiert werden. Einen weiteren Schwerpunkt der Klimapolitik sieht Kyte auch in der Kreislaufwirtschaft, mehr dazu in unserem Dossier Nachhaltigkeit.

Mit der Wiederwahl von Donald Trump ist die Unsicherheit zurück. Schon in seiner ersten Amtszeit hatte Trump den Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen eingeleitet und klimapolitische Maßnahmen zurückgefahren. Nun befürchten viele Regierungen, dass die USA erneut eine bremsende Rolle einnehmen könnten.

Besonders für europäische Länder wie Großbritannien und Deutschland wächst damit der Druck, internationale Partnerschaften zu stärken und eigene klimapolitische Führungsrollen auszubauen. In London beobachtet man genau, wie sich Deutschland unter der neuen Bundesregierung positioniert – auch, um gemeinsam ein Gegengewicht zur US-amerikanischen Klimapolitik zu schaffen. Es ist eines der aktuellen Projekte britischer Diplomatie, hierfür politischen Willen in Berlin zu organisieren.

„Mit der neuen Regierung würde ich erwarten, dass die deutsch-britische Partnerschaft von grundlegender Bedeutung sein könnte, um die internationalen Ambitionen zusammenzuhalten“, sagt Kyte. Es gebe eine ganze Reihe von Themen mit ähnlichen Positionen: „Klima und Sicherheit etwa, bei denen Deutschland traditionell ein wichtiger Anstifter war. Ich würde erwarten, dass wir in diesem Bereich mehr zusammenarbeiten.“

Sie nannte auch die Klimafinanzierung und die Bedeutung von Wäldern. Die klimapolitische Bedeutung Deutschlands innerhalb der EU könne nicht überbewertet werden.

Die Klimaziele in London sind eng mit der Energiepolitik verknüpft – das britische Ziel für diesen Sektor ist ambitioniert: Bis 2030 soll zu 95 Prozent saubere Energie erzeugt werden. Dafür will die Regierung auf Wasserstoff und Geothermie setzen, aber auch auf Kernenergie und CO₂-Speicherung.

Erneuerbare Energien seien „die billigste und sauberste Art, um die Wirtschaft wachsen zu lassen“. Hierin sieht Kyte einen Weg, auch große Schwellenländer zu überzeugen: „Wenn Sie in die großen Länder mit mittlerem Einkommen gehen, hängen unsere Sicherheit und unser Wohlbefinden vollständig von ihrem Erfolg ab.“ Wenn etwa Indien, Indonesien oder Brasilien die Transformation nicht vollziehen, werde das Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben.

Auch Bürgerinnen und Bürgern müsse man klarmachen, dass eine grüne Wirtschaft nicht im Widerspruch zu Wohlstand stehe. Sie sieht es als Fehler an, „dass wir versucht haben, die Diskussion in den Köpfen der Menschen zu gewinnen“. Politik müsse erklären: So senken wir Ihre Rechnung. So bleibt Ihr Alltag sicher.

Auf die Frage, welche Herausforderungen am meisten unterschätzt würden, nennt Kyte das Thema Gesundheit. „Die Leute haben immer gesagt, wir hatten schon immer Hitzewellen, aber wenn die Temperatur in der Nacht nicht mehr unter 20 Grad sinkt, belastet das vor allem Babys und ältere Menschen.“ Hier liege die Verantwortung häufig bei lokalen Behörden. „Wir können die Temperatur in der Stadt senken, indem wir Bäume pflanzen und begrünte Dächer haben. Das ist einfacher und wichtiger als ineffiziente Klimaanlagen, die den Energiebedarf steigen lassen.“

Die Geschwindigkeit, mit der sich das Klima verändere und die Auswirkungen spürbar würden, sei ein systemisches Problem für den Gesundheitssektor. „Es geht um übertragbare Krankheiten, aber auch die Infrastruktur selbst – etwa darum, Krankenhäuser hitzeresistent zu machen.“ Darüber hinaus sei Kühlung eine globale soziale Frage, da sich nicht jeder nachhaltige Kühlung leisten könne, fossile Systeme aber die Erderwärmung befeuern. Der Wettlauf um Klimaanlagen sei daher bereits heute einer der Haupttreiber des Energiebedarfs.

von Gabriel Rinaldi und Bastian Mühling

4.

Trumps Werkzeug? Der Streit um die von Palantir entwickelte Polizei-Software Vera spitzt sich zwischen den Bundesländern zu. Während Bayern, Hessen und NRW das US-Tool bereits einsetzen, lehnen andere Länder es aus Datenschutz- und Sicherheitsbedenken ab – auch wegen der Nähe des Unternehmens zur Trump-nahen US-Sicherheitsarchitektur. Besonders Bayern wirbt offensiv für einen bundesweiten Einsatz, scheiterte damit aber jüngst auf der Innenministerkonferenz in Bremerhaven an der Uneinigkeit der Länder.

Versuchung im Polizeialltag: Recherchen von SZ, NDR und WDR zeigen nun, dass die bayerische Polizei Vera nicht nur zur Terrorabwehr nutzt, sondern auch bei vergleichsweise alltäglichen Delikten. Von 100 Anwendungen zwischen September 2024 und Mai 2025 betrafen über 20 Eigentums- oder Vermögensdelikte – weit entfernt vom Versprechen, das Tool nur bei schweren Gefahrenlagen einzusetzen.

5.

Einhörner aus eigener Zucht: Die EU-Finanzminister wollen heute eine recht beispiellose Investitionsoffensive starten. Mit dem Programm „TechEU“ sollen bis 2027 über die Europäische Investitionsbank 70 Milliarden Euro in wachstumsstarke Technologieunternehmen investiert werden – um insgesamt 250 Milliarden Euro zu mobilisieren. Ziel ist es, europäische Start-ups und sogenannte Scale-ups nicht länger an die USA zu verlieren, sondern sie in Europa zu halten und zu globalen Playern zu machen. Mehr in der SZ.

Notorisch wachstumsschwach: Im Fokus stehen Schlüsseltechnologien wie Künstliche Intelligenz, Cybersicherheit, Quantencomputing, Biotech oder moderne Rüstung. Neben Krediten sind auch Direktbeteiligungen geplant. Europas Problem liegt – wie die EVP-Abgeordnete Eva Maydell uns kürzlich sagte – nicht in der Gründung, sondern im Wachstum: Rund ein Drittel der europäischen Unicorns hat in den vergangenen Jahren den Kontinent verlassen – nicht wegen besserer Ideen, sondern wegen besserer Finanzierung.

6.

Werteprüfung: Im Europaparlament wird künftig eine Arbeitsgruppe prüfen, wofür Nichtregierungsorganisationen EU-Gelder erhalten. Die Entscheidung fiel am Donnerstag im Haushaltsausschuss – durch eine Allianz von EVP, Konservativen und Rechten. Im Fokus stehen Umwelt- und Menschenrechts-Organisationen, denen rechte Parteien vorwerfen, im Auftrag der Kommission Lobbyarbeit zu betreiben.

Linke Fraktionen halten dagegen: Die Kommission fördere zivilgesellschaftliche Gruppen als Gegengewicht zur Macht großer Konzerne. Der Konflikt spitzte sich zuletzt zu – auch, weil die Kommission mitunter Organisationen finanziert, die gegen ihre eigenen politischen Ziele arbeiten, wie gut belegt etwa im Fall des Mercosur-Abkommens: Das kann man für politisch überaus ausgewogen, etwas dämlich oder auch für Geldverschwendung halten.

Eine Verpflichtung zu einem Ziel von fünf Prozent wäre nicht nur unangemessen, sondern auch kontraproduktiv.

Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez beansprucht für sein Land eine Ausnahme von der neuen Regel – die sei „unvereinbar mit unserem Sozialstaat und unserer Weltanschauung“, schrieb er dem Nato-Generalsekretär

Wer die Linkspartei nicht gern in Regierungen sieht, kann beschwingt ins Wochenende starten: Sie arbeitet nach Auskunft ihrer Vorsitzenden derzeit zunächst einmal die Jahre auf, in denen sie Verantwortung übernommen hatte. Es gebe „zu Recht auch ein kritisches Verhältnis zum Regieren, das gerade in der Partei aufgearbeitet wird“, sagte Ines Schwerdtner der dpa.

Das war eine Replik auf Bodo Ramelow, der ein Mindestmaß an Respekt für die eigene Arbeit zumindest von der eigenen Partei zu erwarten schien. „Bin ich dabei, die Partei zu verlassen – oder verlässt meine Partei gerade mich?“, fragte der heutige Bundestagsvizepräsident. Dessen Thüringer Landesverband hatte beschlossen, seine rot-rot-grüne Regierungszeit aufzuarbeiten.

„Diese Debatte ist richtig, sie läuft in Thüringen wie auch in der Gesamtpartei“, erklärte Schwerdtner weiter. Denn: „Wir stellen also den Klassenkampf zwischen oben und unten wieder nach vorne. Das ist das, womit wir erfolgreich sind.“ Wer weiß – vielleicht kommt die Partei am Ende noch zur Einsicht, dass nicht nur das Regieren Klassenkämpfer korrumpiert, sondern auch Parlamentarier in der Opposition selten ganz unten sind.

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