In einem Papier haben prominente Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten eine Abkehr von der Aufrüstungspolitik sowie Gespräche mit Russland gefordert. Vor dem wichtigen Parteitag in knapp zwei Wochen tut sich in der SPD damit eine außenpolitische Debatte auf, innerhalb der Bundestagsfraktion herrscht Unverständnis. „Ein inhaltlich in weiten Teilen fragwürdiges Papier ist nicht Beschlusslage in der Fraktion oder Partei und würde im Falle einer Einbringung auf dem Bundesparteitag auch keine Mehrheit finden“, sagte Adis Ahmetović, außenpolitischer Sprecher der Fraktion, SZ Dossier.
Was zuvor geschah: Der Stern berichtete zuerst über ein „Manifest“ des SPD-Friedenskreises, das SZ Dossier vorliegt. In dem vierseitigen Dokument fordern SPD-Politiker wie Rolf Mützenich, Ralf Stegner und Norbert Walter-Borjans unter anderem eine „schrittweise Rückkehr zur Entspannung der Beziehungen und einer Zusammenarbeit mit Russland“ und die „behutsame Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte“. Ebenso bezeichnen sie eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben als „irrational“ und sprechen von einem „Zwang zu immer mehr Rüstung und zur Vorbereitung auf einen angeblich drohenden Krieg“.
Ebenfalls gefordert: Die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in Deutschland lehnen sie ab. Die Unterzeichnenden schreiben, „militärische Alarmrhetorik und riesige Aufrüstungsprogramme“ führten nicht zu mehr Sicherheit, sondern zu einer noch stärkeren „Bedrohungswahrnehmung“ zwischen der Nato und Moskau. Eine Beteiligung Deutschlands oder der EU an einer „militärischen Eskalation in Südost-Asien“ wird vorsorglich abgelehnt.
Einzelmeinung: SPD-Abgeordnete unterstrichen, dass lediglich fünf der 120 SPD-MdBs unterschrieben hätten. „Es spiegelt weder die aktuelle Beschlusslage der SPD noch die mehrheitliche Position unserer Bundestagsfraktion wider“, sagte die Außenpolitikerin und Parlamentarische Geschäftsführerin Derya Türk-Nachbaur SZ Dossier. „In einigen Punkten halte ich es für politisch unklug – etwa in der Forderung nach einer schrittweisen Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte zu Russland unter den derzeitigen Bedingungen“, fügte sie hinzu. Eine solche Forderung sei nicht zielführend, solange Russland seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg fortsetze.
Außenpolitische Grundsätze: Wie Ahmetović ausführte, bleibe die außen- und sicherheitspolitische Neuausrichtung der SPD klar. „Wir stehen fest an der Seite der Ukraine und betonen mit aller Deutlichkeit, dass wir eine neue Sicherheitsarchitektur nicht mit, sondern vor Russland entwickeln müssen, solange Russland an seiner aggressiv-imperialistischen Außenpolitik festhält“, sagte er. Als wesentliche Grundsätze nannte er Europa, das transatlantische Bündnis, den Multilateralismus und das Völkerrecht. „Die SPD ist eine Friedenspartei und bleibt diese auch, wenn sie klar erkennt, dass es neue Realitäten gibt, die neben Diplomatie auch militärische Stärke bedingen“, sagte Ahmetović.
Pistorius vs. Mützenich: Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte gestern der dpa, das Papier sei „Realitätsverweigerung“. „Es missbraucht den Wunsch der Menschen in unserem Land nach Ende des furchtbaren Krieges in der Ukraine. Nach Frieden“, sagte er. Mützenich, einer der Unterzeichner, sagte dem Tagesspiegel, die Reflexe, die kommen, seien leider nicht neu. Das Dokument allein auf Russland zu verengen, werde den Gedanken und Forderungen nicht gerecht. „Daher hoffe ich auf angemessene und ernsthafte Auseinandersetzung mit unseren Ideen“, sagte er. Der Zeitpunkt der Fertigstellung vor dem Parteitag habe auch damit zu tun, dass sich die SPD ein neues Grundsatzprogramm geben wolle.
Ärger vor dem Parteitag? Das „Manifest“ liest sich als Angriff auf die außenpolitische Linie von Parteichef und Vizekanzler Lars Klingbeil. Diese Lesart teilen aber nicht alle in der Partei: „Einen außenpolitischen Richtungsstreit innerhalb der SPD sehe ich nicht“, sagte Türk-Nachbaur. Kontroverse Meinungen seien kein Zeichen von Spaltung, sondern „gelebte innerparteiliche Demokratie“. Das Papier sei aus ihrer Sicht keine „substanzielle Kritik“ an der aktuellen außenpolitischen Linie der Parteiführung. Vielmehr zeige es, dass Einzelne eine andere Lesart vertreten. Die Debatte dürfte allerdings spätestens auf dem Parteitag weitergehen.