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Tiefgang

Die Zehn-Prozent-Wende

Was vor wenigen Wochen noch als ausgeschlossen galt, liegt nun nach Angaben hoher Beamte auf dem Verhandlungstisch: Die EU-Kommission ist bereit, einen zehnprozentigen Grundzoll auf Ausfuhren in die USA zu akzeptieren – als Preis für den Verzicht Washingtons auf härtere Maßnahmen.

Hinter den Kulissen wird über Ausnahmen für Autos, Flugzeuge, Alkohol und Medikamente verhandelt. Es ist der Versuch, das Gesicht zu wahren: Europa gibt formal nach, die USA mildern ihre Zölle – beide Seiten retten den Anspruch, sich nicht erpressen zu lassen.

Der Schritt ist nicht ohne Risiko. Wer einen pauschalen Grundzoll akzeptiert, setzt ein neues Normal – und signalisiert: Europa ist bereit, für Stabilität einen Preis zu zahlen, auch wenn dieser in Washington berechnet wird.

Die Zehn-Prozent-Option hat sich angebahnt. Tobias Gehrke, Geoökonomie-Experte beim Europen Council on Foreign Relations, sagte SZ Dossier vergangenes Wochenende: „Das wahrscheinlichste Szenario ist genau das: ein Basistarif von zehn Prozent, plus Sektorenzölle auf Autos, Stahl, Pharma und Elektronik.“ Sein Rat wäre ein anderer gewesen: „Wir hätten längst eskalieren müssen. Dann würden wir jetzt über Deeskalation verhandeln.“

Auch Arancha González Laya, frühere spanische Außenministerin und heute Dekanin an der Paris School of International Affairs der Sciences Po, erinnerte daran, dass Europa über mehr als nur ökonomisches Gewicht verfügt – es verfüge über strukturelle Macht. Der Binnenmarkt, ein engmaschiges Netz an Handelsabkommen, die Attraktivität als Zielmarkt: all das seien strategische Ressourcen.

„Europa muss diese Hebel auch einsetzen wollen“, sagte sie. Und: „Wenn wir nicht strategisch handeln, werden andere strategisch mit uns umgehen.“ Das gilt für den Handel, es gilt aber auch für Investitionen. Europa muss sich fragen, ob es in dieser Lage strategisch handelt – oder nur reagiert.

Ohne gemeinsamen Investitionsrahmen könne Europa von außen gespalten werden, sagte González Laya. Staaten wie China suchten sich gezielt jene Mitgliedstaaten aus, die am wenigsten Bedingungen stellen. Gerade jetzt, da Investitionen selbst zum geopolitischen Instrument werden, sei das mehr als ein Schönheitsfehler.

In den laufenden Verhandlungen mit den USA geht es längst um mehr als Prozentsätze und Produktkategorien. Eine stille Abwägung steht im Raum: Der freie Zugang für deutsche Autos zum US-Markt könnte zur Gegenleistung dafür werden, dass Europa bei der Regulierung digitaler Dienste Zurückhaltung übt. Unter dem Banner der Meinungsfreiheit wird die europäische Digitalpolitik seit Monaten aus Washington heraus scharf kritisiert – etwa von Vizepräsident J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz, der vor einer „Zensur europäischer Prägung“ warnte.

Brüssel verkauft die neue Linie inzwischen als bestmöglichen Deal. Die rote Linie bleibt: Bei Autos will sich Europa nicht beugen. Handelskommissar Maroš Šefčovič und der Kabinettschef der Kommissionspräsidentin versuchen, unter hohem Erwartungsdruck eine Verständigung zu erzielen: Stichtag für die angedrohten neuen Zölle ist der 9. Juli.

„Nicht in Panik verfallen“, rät González Laya. „Aber wir dürfen auch nicht Trumps Agenda zur eigenen machen.“ Gehrke ergänzt: „Gegenüber Washington und Peking brauchen wir nicht Regeln, sondern Machtressourcen.“