Die Sicherheitslücke am Ostseegrund
Auf dem gar nicht mal so tiefen Meeresgrund der deutschen See schlummert eine gigantische Gefahr: Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Alliierten im Rahmen der Entwaffnung Deutschlands Munition und Waffenreste in Ost- und Nordsee versenkt.
Insgesamt wird mit einer Menge von 1,6 Millionen Tonnen gerechnet, die teilweise unweit der deutschen Küste auf dem Meeresboden liegen. Das Bundesministerium für Umwelt, Klimaschutz, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMUKN) stellt es etwas greifbarer dar: Diese Menge würde ausreichen, um einen Güterzug mit einer Länge von 1000 Kilometern zu befüllen; das entspricht etwa der Strecke von Berlin nach Paris.
Der Zahn der Zeit nagt seit dem Ende des Krieges nicht nur sprichwörtlich an den Hüllen von Patronen, Raketen, Minen und Bomben: Das Salzwasser erodiert die Metallhüllen. Giftige Stoffe, wie Senfgas, Phosgen, Sarin oder Tabun treten immer schneller aus. Manche Substanzen, wie der Sprengstoff TNT und dessen Stoffwechselprodukte sind zumindest in Spuren mittlerweile in Fischen und Krustentieren nachweisbar – landen also früher oder später auf den Tellern von Konsumentinnen und Konsumenten.
Achtzig Jahre nach Kriegsende soll aber nun der Meeresboden von Nord- und Ostsee „geräumt“ werden. Doch Umwelt- und Verbraucherschutz sind nur zwei Gründe dafür, dass Deutschland sich des Themas annimmt. Ins Gewicht fallen auch wirtschaftliche und sicherheitspolitische Beweggründe.
Bei der UN-Ozeankonferenz vergangene Woche in Nizza kündigte Bundesumweltminister Carsten Schneider (SPD) an, Deutschland wolle die Bergung und Vernichtung der Altlasten mit einem Sofortprogramm in Höhe von 100 Millionen Euro angehen.
Eine Mammutaufgabe, wie wissenschaftliche Pilotprojekte, etwa in der Lübecker Bucht, gezeigt haben. Forscherinnen und Forscher haben die sogenannten Versenkungsgebiete kartografiert und erforscht, welche Auswirkungen die Weltkriegsmunition auf die Ökosysteme hat und wie man das System des Auffindens, Sortierens und Vernichten der Waffenreste skalieren kann.
Laut Umweltminister Schneider sollen schwimmende Plattformen gebaut werden, von denen aus die Munition geborgen und entschärft werden kann. Eine Entschärfung unter Wasser ist nach Aussage des Kampfmittelräumdienstes quasi unmöglich, eine Sprengung kommt aufgrund der Folgen für das Ökosystem nicht infrage.
„Die gesamte deutsche Ostsee muss munitionsverseucht angesehen werden“, skizzierte Jens Greinert, Leiter der Arbeitsgruppe Tiefsee-Monitoring am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel (Geomar) gestern bei einem Pressetermin des Science Media Center Germany das Ausmaß der Belastung.
Hier kommen auch die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Aspekte ins Spiel: Jedes Bauvorhaben, wie zum Beispiel die Verlegung von Pipelines oder der Bau von Offshore-Windkraftanlagen, muss den Aspekt der Räumung in Betracht ziehen. Das verursacht, wie es das BMUKN nüchtern formuliert, „zusätzliche Investitionen“. Und wenn, wie es Greinert ausdrückte, nur zwei Kilometer vor der deutschen Küste in Schnorcheltiefe tausendfach explosive Munition liegt, „schiebt sich ganz schnell das Thema Sicherheit vor das Thema Umwelt“.
Doch es ist zunächst der Wissenschaft zu verdanken, dass das Thema überhaupt an Bedeutung gewonnen hat. Denn mit dem Nachweis, dass tatsächlich gefährliche Stoffe entweichen, kam Bewegung in die Sache. „Es war danach aber lange auch nicht klar, wer für die Beseitigung des Problems eigentlich verantwortlich ist: Die Landesministerien der Küstenländer, das Bundesinnen-, das Bundesumweltministerium?“, sagte Greinert gestern.
Erst in den vergangenen drei Jahren sei Bewegung in das Thema gekommen: Das BMUKN-Vorgängerministerium unter Steffi Lemke (Grüne) habe die Verantwortung übernommen und das Sofortprogramm aufgelegt, das Schneider nun in Nizza vorstellte, sagte Greinert.
Hinzu komme eine „natürliche Zurückhaltung“, die auch mit der Schuldfrage Deutschlands zu tun habe, sagte Matthias Brenner, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. „Deutschland hat eine gewisse Zurückhaltung an den Tag gelegt“, so Brenner, „vielleicht auch aus der Befürchtung, alleine für die Kosten der Beseitigung aufkommen zu müssen.“
Eine Sprecherin des BMUKN teilte SZ Dossier mit, dass das Bewusstsein der Bedeutung einer intakten Meeresumwelt, auch für den Klimaschutz, gewachsen sei. „Darüber hinaus haben aktuelle Untersuchungen die hohe Toxizität der Altmunition und einen möglichen Eintritt in die menschliche Nahrungskette nachgewiesen.“ Dass jetzt gehandelt werde, hänge auch damit zusammen, dass die Entwicklung von Technologien zur Handhabung von Altmunition mittlerweile vorangeschritten sei, so die Sprecherin.
Laut Umweltministerium läuft aktuell das Vergabeverfahren für die Entsorgungsanlage auf See. Mit der Fertigstellung wird, Stand jetzt, im zweiten Halbjahr 2027 gerechnet. Bereits morgen treffen sich internationale Fachleute aus den beteiligten Bereichen bei der zweiten Munition Clearance Week in Kiel.