Abgelehnt – und gut genutzt
Das Misstrauensvotum gegen Ursula von der Leyens EU-Kommission ist gescheitert – und trotzdem politisch folgenreich.
360 Abgeordnete des Europaparlaments stimmten gegen den Antrag, 175 dafür, 18 enthielten sich. Insgesamt gaben 553 von 719 Abgeordneten ihre Stimme ab. Formuliert worden war der Antrag von einem rumänischen Rechtspopulisten – Erfolg hätte er nur gehabt, wenn mindestens 360 Abgeordnete dafür gestimmt hätten und zugleich zwei Drittel der tatsächlich abgegebenen Stimmen zusammengekommen wären. Beide Hürden wurden klar verfehlt.
Auch eine verlorene Abstimmung entfaltet Wirkung. Hier sind sechs politische Profiteure der Woche – und ein Verlierer.
1. Die Antragsteller von Rechtsaußen: Bühne frei. 77 Abgeordnete, vor allem von der extremen Rechten und nationalistischen Parteien aus Deutschland, Polen und Rumänien, haben den Antrag eingebracht – und damit erreicht, was ihnen sonst selten gelingt: Aufmerksamkeit und eine Rolle im institutionellen Drama Europas.
In der Sache wird nichts draus. Das Symbol aber zählt – und die Lehre: Wenn sich Kritik an Corona-Aufarbeitung als Kampf gegen das Establishment personalisieren lässt, dann kann das auch mit anderen Themen gelingen. Der Initiator kündigte schon an, das Spektakel bei Gelegenheit wiederholen zu wollen.
2. Giorgia Meloni, Europas rechte Pragmatikerin. Die Abgeordneten der Fratelli d’Italia, also der Partei der italienischen Premierministerin, stimmten gegen den Antrag, gegen einige Extreme, aber auch gegen Brüder im Geiste und Fraktionsgenossen. Meloni kann sich weiter als pragmatische, proeuropäische Verhandlerin inszenieren, die weiß, wann Pose endet und Regieren beginnt: mit Blick auf Machtoptionen in Brüssel kein unwichtiger Akzent.
3. Die Sozialdemokraten senden ein Warnsignal an die EVP. Iratxe García, die Fraktionschefin der Sozialdemokraten (S&D), hat es offen ausgesprochen: Die EVP sollte sich gut überlegen, mit wem sie künftig Mehrheiten im Parlament zustande bringen will. Eine Koalition der wechselnden Mehrheiten, bei der Sozialdemokraten oder Liberale übergangen werden, ist für das Mitte-Links-Lager eine andauernde Provokation.
Das Misstrauensvotum war daher willkommene Gelegenheit, sich ins Gedächtnis der EVP zurückzurufen – als auch nicht selbstverständlich loyale Kraft. Die S&D-Fraktion nutzte den Antrag von Rechtsaußen, um ihre Zustimmung teuer zu verhandeln: Die Kommission versprach, im anstehenden Vorschlag für den nächsten EU-Haushalt eine S&D-Priorität zu berücksichtigen.
4. Manfred Weber und die EVP: Disziplin ist alles. Auch der Chef der Europäischen Volkspartei kann die Woche für sich verbuchen. Seine Fraktion, mit 188 Abgeordneten die größte im Hohen Haus, stand recht geschlossen hinter von der Leyen: Zwei Abgeordnete enthielten sich, 19 blieben der Abstimmung fern.
Eine Disziplinierung, die nicht selbstverständlich war angesichts der Spannungen zwischen Fraktion und Kommissionspräsidentin, die von der Leyen zu anderen Zeiten nicht scheut. Das Signal: Wer die Kommissionspräsidentin angreift, greift auch die EVP an, die in der Kommission die meisten Kommissarinnen und Kommissare stellt. Die Christdemokraten verteidigten nicht nur die Präsidentin, sondern ihren Einfluss auf die Kommission – und sie haben etwas bei ihr gut.
5. Gestählt und gestärkt: Ursula von der Leyen. Für die Kommissionspräsidentin war der Antrag eine willkommene Gelegenheit zur Selbstverteidigung und zur politischen Offensive. Dass sie sich nicht entschuldigt, sondern die Gegenseite als Sprachrohr russischer Interessen darstellt, war kein Ausrutscher.
Besser hätte die Woche für sie kaum laufen können: Der Vorwurf, ihre SMS-Kommunikation mit dem Pfizer-Chef sei zu intransparent gewesen, ist politisch abgeräumt – der Antrag hat es versucht und ist gescheitert.
Wer verliert: Eine Institution, die so viel Aufwand treiben muss, um den Reflexen ihrer Mitglieder zu widerstehen, den Antrag vom äußersten Rand zur Durchsetzung eigener Interessen zu nutzen, geht geschwächt aus so einer Woche hervor.