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Briefing

Platz der Republik,

Abgelehnt – und gut genutzt

Guten Morgen. Auch wer keinen Abgeordneten mehr hat, darf weiter nach Berlin fahren. Der Ältestenrat des Bundestags hat beschlossen, dass Bürgerinnen und Bürger aus Wahlkreisen ohne Direktmandat trotzdem bezuschusste Reisen in den Bundestag unternehmen dürfen – samt Mittagessen, Führung und Gespräch, mit wem auch immer: Der Bundestag organisiert Teilhabe, wo er keine Vertretung mehr vorweisen kann.

„Unsere Demokratie lebt von Transparenz und dem Vertrauen in ihre Repräsentanten“, sagte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner der dpa. Gerade Schulklassen müssten die Möglichkeit haben, das Parlament vor Ort zu erleben. Auch diejenigen, die das neue Wahlrecht um ein direkt gewähltes Mitglied gebracht hat.

Es ist die institutionelle Version des Schaufensters, an dem sich Kinder die Nasen plattdrücken: anschauen, wie andere vertreten werden. Nur die Tür zur Wunderwelt des Parlamentarismus ist zu für Besucher aus Tübingen, Stuttgart II, Lörrach-Mühlheim und Darmstadt.

Willkommen am Platz der Republik.

1.

Der Bundestag ist doch wieder, was er nicht sein will: überwölbt vom Zirkuszelt. Völlig unbeschadet wird heute niemand durch die Wahl eines Richters und zweier Richterinnen an das Bundesverfassungsgericht kommen. Nicht die Kandidaten, nicht die schwarz-rote Koalition, nicht ihr Führungspersonal.

Unruhe in der Union: Die Kandidaten stehen im grellen Licht – ihre Positionen, Papiere, Fernsehauftritte wurden öffentlich gewogen. Im Fall von Frauke Brosius-Gersdorf fiel erneut auf, dass sie das klare Wort pflegt und ihre Positionen in Fragen des Lebensschutzes bei Unionsabgeordneten für gravierende Irritationen sorgen. Gerade die kirchlich Geprägten halten sie für der eigenen Wählerschaft nur schwer vermittelbar – und Friedrich Merz’ unbedingtes Ja zur Kandidatin am Mittwoch für wenig hilfreich. Einige teilten das dem Wahlkreis brieflich mit, einige auch nur der Führung.

Berliner Mühsal: Eine Wahl, wie sie früher im Konsens stattfand, muss nun mit Mühe organisiert werden. Stimmen werden gezählt, Lücken gestopft, Reisen gestrichen. Bauministerin Verena Hubertz etwa bleibt vorsichtshalber in Berlin, statt zur Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine nach Rom zu reisen. Schwerer hat es die Union. Ihre Führung steht bei der SPD im Wort.

Dealen und Taktieren: Die SPD hatte angeboten, Brosius-Gersdorf solle nicht Vizepräsidentin, sondern nur einfache Richterin werden – eine instabile Brücke für jene in der Union, die mit einem Nein liebäugeln. Die freuten sich, mindestens still, über einen Anlass, Unmut zu ventilieren: SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf zeigte sich offen für einen Untersuchungsausschuss gegen Jens Spahn – der wiederum tatsächlich beschäftigt mit der Sicherung eigenen Zukunft ist und den Ernst der Lage in Sachen Richterwahl bis zuletzt verkannte.

Eine Niederlage wäre auch seine: Der Unionsfraktionschef hatte zunächst ausgeben lassen, so links sei Brosius-Gersdorf gar nicht – fast schon libertär, was den Sozialstaat angeht, wie das linke Lager ebenso wie Unionisten emsig verbreiteten. Es half wenig. Die Fraktionsführung der Union verlegte sich auf Warnungen vor einer Koalitionskrise – das war schon für die Ampel kein letzter Ausweg. Die Linke verweigert ihrerseits die Mitwirkung an der Zweidrittelmehrheit, weil sie sich nicht gesehen fühlt. Weil aber andererseits auch mit einer Zustimmung zur SPD-Kandidatin Unruhe in der Koalition zu stiften ist – warum nicht? Es ist unübersichtlich.

Mal eben die Welt retten? Der Kanzler kündigte indes in Rom an, heute nochmals Gespräche mit den eigenen Leuten zu führen. Er wird am Morgen der Unionsfraktion Besuch abstatten, um „zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen“, wie er sagte – was durchaus offen ließ, mit wem er es nach Hause schicken würde, wenn es keine solche Lösung gäbe.

2.

Die Reisefreiheit des Schengenraums war keine technische Errungenschaft, sie war ein Versprechen: dass Grenzen in Europa an Bedeutung verlieren, wenn Vertrauen wächst. Dass sie zunehmend eingeschränkt wird, ist ebenso ein Signal: Die EU gerät nicht nur praktisch, sondern auch politisch und legitimatorisch an Grenzen. Die Migrationsfrage wiegt inzwischen so schwer, dass zentrale Prinzipien europäischer Integration zur Disposition stehen.

Kontrolle – oder bloß der Eindruck davon? Da wäre es gut, hätten die doppelten Grenzkontrollen dieser Woche zwischen Deutschland und Polen mit ihren Auswirkungen auf den Alltag in den Grenzregionen, auf Warenverkehr und Sommerferien, einen Nutzen, der den Schaden jedenfalls aufwiegt. Migrationspolitik aber verlagert sich von der Steuerung zur Symbolik.

Also: Helfen die Grenzkontrollen, Migration zu begrenzen? Der Migrationsforscher und Politikberater Gerald Knaus glaubt es nicht. „Die neue deutsche Politik, Asylsuchende an der Grenze zurückzuweisen, führt in der Praxis zu kaum mehr Rückführungen als zuvor“, sagte Knaus. An der deutsch-polnischen Grenze zeige sich beispielhaft politische Dysfunktion Europas: „Deutschland tut so, als würde es Asylbewerber nach Polen zurückschicken – tut es aber nicht in größerer Zahl als 2024. Es ist Theater“, sagte er. „Genauso wie die Reaktion Polens, Grenzkontrollen nach Deutschland einzuführen.“

Eine Warnung: „Dieses Theater untergräbt Schengen – und spielt überall den antieuropäischen Kräften in die Hände“, sagte Knaus, der für eine Begrenzung illegaler Migration vor allem über Rückführungsabkommen mit Drittstaaten wirbt – wie für einige Jahre erfolgreich, zahlenmäßig, mit der Türkei durchexerziert. Das EU-Türkei-Abkommen 2016 war seine Idee.

Denk ich an Deutschland: „Ohne echte Kontrolle der irregulären Migration ist keine rationale Migrationsdebatte möglich“, sagte Knaus. Die wäre überfällig, passt aber nicht in ein Land, das sich über Migration bloß entlang von Fragen der Sicherheit im Freibad Gedanken macht. Eine alternde und schrumpfende Gesellschaft erfindet weniger, produziert weniger, konsumiert weniger und wird Arbeitskräfte holen müssen; Spitzenforscherinnen ebenso wie Krankenpfleger.

Derzeit ein frommer Wunsch: „Wenn wir mehr Migration wollen – und wir brauchen sie – wird sie auch aus dem Nahen Osten und Nordafrika kommen“, sagte Knaus. „Sie wird auch muslimisch sein. Die Politik muss sich dieser Realität stellen und beweisen, dass erfolgreiche Integration ohne Vorurteile möglich ist.“

3.

Ebenfalls von Rom aus kündigte der Bundeskanzler an, Deutschland werde von den USA Luftverteidigungssysteme vom Typ Patriot zu kaufen, um sie als Waffenhilfe gegen den Aggressor Russland direkt an die Ukraine liefern zu lassen. In einem Telefongespräch mit dem US-Präsidenten habe er „ihn auch gebeten, diese Systeme zu liefern“, sagte Merz.

Details und Preis sollen nun verhandelt werden. Der amerikanische Präsident hatte Partner und Verbündete zunächst erneut zur Exegese seiner Einlassungen eingeladen, ohne dabei allzu detaillierte Hilfestellung anzubieten – mit der Ankündigung, weitere Systeme zu liefern, aber ohne die Klarstellung, wer dafür aufkommen soll.

In jedem Falle: Es ist eine Abkehr vom Stopp weiterer Waffenlieferungen durch das US-Verteidigungsministerium – offenbar nach einer Einsicht: dass Wladimir Putin kein Interesse an einem Friedensschluss hat. Trump hingegen schon – er verspricht ihn seinen Wählern und sich selbst den Friedensnobelpreis: Die Ukraine hat mindestens wieder etwas Zeit gewonnen.

Das Misstrauensvotum gegen Ursula von der Leyens EU-Kommission ist gescheitert – und trotzdem politisch folgenreich.

360 Abgeordnete des Europaparlaments stimmten gegen den Antrag, 175 dafür, 18 enthielten sich. Insgesamt gaben 553 von 719 Abgeordneten ihre Stimme ab. Formuliert worden war der Antrag von einem rumänischen Rechtspopulisten – Erfolg hätte er nur gehabt, wenn mindestens 360 Abgeordnete dafür gestimmt hätten und zugleich zwei Drittel der tatsächlich abgegebenen Stimmen zusammengekommen wären. Beide Hürden wurden klar verfehlt.

Auch eine verlorene Abstimmung entfaltet Wirkung. Hier sind sechs politische Profiteure der Woche – und ein Verlierer.

1. Die Antragsteller von Rechtsaußen: Bühne frei. 77 Abgeordnete, vor allem von der extremen Rechten und nationalistischen Parteien aus Deutschland, Polen und Rumänien, haben den Antrag eingebracht – und damit erreicht, was ihnen sonst selten gelingt: Aufmerksamkeit und eine Rolle im institutionellen Drama Europas.

In der Sache wird nichts draus. Das Symbol aber zählt – und die Lehre: Wenn sich Kritik an Corona-Aufarbeitung als Kampf gegen das Establishment personalisieren lässt, dann kann das auch mit anderen Themen gelingen. Der Initiator kündigte schon an, das Spektakel bei Gelegenheit wiederholen zu wollen.

2. Giorgia Meloni, Europas rechte Pragmatikerin. Die Abgeordneten der Fratelli d’Italia, also der Partei der italienischen Premierministerin, stimmten gegen den Antrag, gegen einige Extreme, aber auch gegen Brüder im Geiste und Fraktionsgenossen. Meloni kann sich weiter als pragmatische, proeuropäische Verhandlerin inszenieren, die weiß, wann Pose endet und Regieren beginnt: mit Blick auf Machtoptionen in Brüssel kein unwichtiger Akzent.

3. Die Sozialdemokraten senden ein Warnsignal an die EVP. Iratxe García, die Fraktionschefin der Sozialdemokraten (S&D), hat es offen ausgesprochen: Die EVP sollte sich gut überlegen, mit wem sie künftig Mehrheiten im Parlament zustande bringen will. Eine Koalition der wechselnden Mehrheiten, bei der Sozialdemokraten oder Liberale übergangen werden, ist für das Mitte-Links-Lager eine andauernde Provokation.

Das Misstrauensvotum war daher willkommene Gelegenheit, sich ins Gedächtnis der EVP zurückzurufen – als auch nicht selbstverständlich loyale Kraft. Die S&D-Fraktion nutzte den Antrag von Rechtsaußen, um ihre Zustimmung teuer zu verhandeln: Die Kommission versprach, im anstehenden Vorschlag für den nächsten EU-Haushalt eine S&D-Priorität zu berücksichtigen.

4. Manfred Weber und die EVP: Disziplin ist alles. Auch der Chef der Europäischen Volkspartei kann die Woche für sich verbuchen. Seine Fraktion, mit 188 Abgeordneten die größte im Hohen Haus, stand recht geschlossen hinter von der Leyen: Zwei Abgeordnete enthielten sich, 19 blieben der Abstimmung fern.

Eine Disziplinierung, die nicht selbstverständlich war angesichts der Spannungen zwischen Fraktion und Kommissionspräsidentin, die von der Leyen zu anderen Zeiten nicht scheut. Das Signal: Wer die Kommissionspräsidentin angreift, greift auch die EVP an, die in der Kommission die meisten Kommissarinnen und Kommissare stellt. Die Christdemokraten verteidigten nicht nur die Präsidentin, sondern ihren Einfluss auf die Kommission – und sie haben etwas bei ihr gut.

5. Gestählt und gestärkt: Ursula von der Leyen. Für die Kommissionspräsidentin war der Antrag eine willkommene Gelegenheit zur Selbstverteidigung und zur politischen Offensive. Dass sie sich nicht entschuldigt, sondern die Gegenseite als Sprachrohr russischer Interessen darstellt, war kein Ausrutscher.

Besser hätte die Woche für sie kaum laufen können: Der Vorwurf, ihre SMS-Kommunikation mit dem Pfizer-Chef sei zu intransparent gewesen, ist politisch abgeräumt – der Antrag hat es versucht und ist gescheitert.

Wer verliert: Eine Institution, die so viel Aufwand treiben muss, um den Reflexen ihrer Mitglieder zu widerstehen, den Antrag vom äußersten Rand zur Durchsetzung eigener Interessen zu nutzen, geht geschwächt aus so einer Woche hervor.

von Florian Eder

4.

Achtung, Flaggenkontrolle: Die Bundestagsverwaltung hat die hauseigene Polizei zur Wiederherstellung der Ordnung geschickt – in diesem Fall der Hausordnung. Das Anbringen von Fahnen sei „grundsätzlich und unabhängig von der konkreten Symbolik nicht gestattet“, sagte ein Sprecher des Bundestags. Weil Abgeordnete eine entsprechende Aufforderung frech ignorierten, musste eben die Polizei ausrücken.

Es gibt hier nichts zu sehen! „Es geht nicht konkret um die Kontrolle von Regenbogenfahnen“, sagte der Sprecher und nannte das Vorgehen „üblich“. Nach Prüfung des Sachverhalts – hängt da etwa eine Flagge, von außen oder vom Gang aus sichtbar? – werde die Sache im Regelfall von der Bundestagspolizei und dem Referat für Zutrittsangelegenheiten umgesetzt. Entschlossenheit auf dem Amtsweg hat einen Namen: Julia Klöckner, Hausordnungspatriotin.

5.

Heute im Bundesrat: Die Länderkammer trägt als letztes befasstes Organ ihren Teil dazu bei, dass das Sofortprogramm der Bundesregierung seinen Namen verdient. Erhöhte Abschreibungsmöglichkeiten treten sofort in Kraft; die Körperschaftsteuer soll dann im Anschluss ab 2028 schrittweise sinken.

Entscheidungshilfe in cash: Hoffnung auf Wachstum liegt auch wieder einmal darauf, den Kauf von E-Autos zu subventionieren. Die Länder haben leicht zustimmen, haben sie mit dem Bund ja vereinbart, dass der ihre Steuerausfälle übernimmt.

Außerdem auf der Tagesordnung: die Verlängerung der Mietpreisbremse bis 2029, die Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten für zwei Jahre – und die Rücknahme der Einbürgerung in Deutschland nach nur drei Jahren.

Aufarbeitung schafft die Chance, Menschen zurückzugewinnen, die Vertrauen in die Demokratie verloren haben.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier begrüßte die Einsetzung der Enquete-Kommission des Bundestags zur Corona-Pandemie. Im September soll sie ihre Arbeit aufnehmen

Wer arbeitet, ist weniger allein. Zu diesem Schluss kommt das Deutsche Zentrum für Altersfragen in einer neuen Studie zur Einsamkeit in der zweiten Lebenshälfte. Besonders deutlich zeigt sich der Unterschied bei Menschen bis 65 Jahren.

Erwerbstätige fühlen sich im Schnitt spürbar weniger einsam als Nicht-Erwerbstätige. Dass Arbeit nicht nur Einkommen schafft, sondern auch Verbindung stiftet, ist eine Einsicht, die in politischen Debatten bislang oft unterbelichtet bleibt.

Auch das Einkommen spielt eine Rolle: Menschen in Armut fühlen sich deutlich häufiger einsam als jene, die auskömmlich leben. Der Unterschied im Einsamkeitserleben zwischen arm und wohlhabend ist größer als zwischen Jung und Alt, zwischen Männern und Frauen.

Einsamkeit ist ein sozial ungleich verteiltes Risiko – kein bloß individuelles Gefühl. Wenn Erwerbsarbeit soziale Einbindung stiftet und Armut sie erschwert, lohnt sich ein Blick auf die Bedingungen gelingender Zugehörigkeit – und auf den Wert der Arbeit.

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