Weiter Weg zur Fünf-Prozent-Hürde der Nato
Wenn sich heute die Verteidigungsminister der Nato in Brüssel treffen, werden sie voraussichtlich das größte Aufrüstungsprogramm in der Geschichte der Allianz auf den Weg bringen. Bei der Vorbereitung für den Nato-Gipfel in Den Haag Ende Juni sollen sich alle Mitgliedsstaaten verpflichten, bis 2032 direkte und indirekte Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, obwohl viele die zwei Prozent bei den direkten Verteidigungsausgaben noch gar nicht erreicht haben.
Zum anderen dürften laut einem Bericht der dpa die internen Zielvorgaben für die militärischen Fähigkeiten einschließlich Soldaten um 30 Prozent erhöht werden. „Wir benötigen mehr Ressourcen, Truppen und Fähigkeiten“, sagte Nato-Generalsekretär Mark Rutte gestern.
Schon vor einiger Zeit hat sich Rutte die Forderung von US-Präsident Donald Trump nach einem Beitrag in Höhe von fünf Prozent zu eigen gemacht. Das Ziel soll bis 2032 erreicht werden. Da nicht alle Staaten die gleichen finanziellen Möglichkeiten haben, plant Rutte eine Untergrenze: Die Verteidigungsausgaben sollten jedes Jahr um mindestens 0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen.
„Wir brauchen das, denn andernfalls werden wir die Fähigkeitsziele, die wir erreichen müssen, niemals, wirklich niemals erreichen“, sagte Rutte vor wenigen Tagen auf der Parlamentarischen Versammlung der Nato in Dayton, Ohio.
Trump besänftigen und militärische Fähigkeiten stärken: Beide Ziele sind eng miteinander verbunden. Trump droht immer wieder mit einem Rückzug aus der Nato oder der US-Truppen aus Europa. Die Allianz würde dadurch wohl vor dem Aus stehen, zumindest aber dramatisch an Gewicht verlieren – politisch wie auch militärisch.
„Einzelne Fähigkeiten der USA sind einzigartig in der Nato, etwa die nukleare Abschreckung für alle Mitgliedsländer, ihre Weltraumfähigkeiten oder die strategische Luftverlegbarkeit“, sagt Stefan Bayer SZ Dossier. Der Militärökonom am German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) warnt: „Die Kompensation in Fähigkeitskategorien würde locker mindestens zehn Jahre benötigen. Diese Situation sollte die Nato dringend vermeiden.“
Doch nicht alle Länder teilen diese Einschätzung. Es ist, als würde in Europa eine Bruchlinie zwischen Nordost und Südwest verlaufen: Länder, die eine unmittelbare Betroffenheit durch den russischen Angriff auf die Ukraine empfinden, zeigen eine höhere Zahlungsbereitschaft. Hinzu kommt fiskalischer Druck: In vielen Nato-Staaten herrscht Wachstumsflaute. Rutte hat die neue Fünf-Prozent-Klausel daher mit einem Trick entschärft. 3,5 Prozent für die echten Militärausgaben plus 1,5 Prozent für indirekte oder „weiche“ Ausgaben, etwa für Transportwege für Truppen und Waffen.
Auch weltweit steigen die Militärausgaben so stark wie noch nie seit dem Ende des Kalten Krieges. 2024 haben dem Friedensforschungsinstitut Sipri zufolge 18 Nato-Staaten zumindest das Zwei-Prozent-Versprechen eingehalten – 2023 waren es nur elf gewesen. Ganz vorn liegen Polen (rund 4,2 Prozent des BIP), Estland (3,43 Prozent), die USA (3,38 Prozent), Lettland (3,15 Prozent) und Griechenland (3,08 Prozent). Deutschland kommt dank Sondervermögen auf 2,12 Prozent des BIP, laut Rechnung der Statistikbehörde Destatis waren es allerdings nur 1,89 Prozent.
Was Ruttes fünf Prozent für Deutschland bedeuten: Deutschland will vorangehen, Kanzler Merz verspricht gar: „Whatever it takes.“ Dafür hat Berlin eigens die Schuldenbremse für die Verteidigungs- und Sicherheitsausgaben ausgesetzt – und zwar für alle Ausgaben, die über ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts hinausgehen. Nun kann man theoretisch unbegrenzt viel Geld in Verteidigung, Zivilschutz, Nachrichtendienste und Cybersicherheit investieren.
Rein rechnerisch sind die Folgen des Rutte-Plans für Deutschland einfach zu beziffern: zwischen 210 und 215 Milliarden Euro für Verteidigung – jedes Jahr. Derzeit gibt der Bund insgesamt etwa 500 Milliarden Euro im Jahr aus.
1. Harte Verteidigungsausgaben: Ausgaben, die seit Jahrzehnten im klassischen Sinn der Verteidigung zugeordnet werden – Waffen und Munition, aber auch die Pensionen militärischer und ziviler Beschäftigter der Streitkräfte. Ebenfalls anrechnungsfähig wäre hier die militärische Unterstützung der Ukraine. Diese würden sich in Deutschland binnen zehn Jahren fast verdreifachen: von 1,35 Prozent in 2022 auf die 3,5 Prozent in 2032. Auch das gab es schon, zum Beispiel in Westdeutschland Ende der 60er Jahre, als Willy Brandt erst Außenminister und dann Kanzler war (der Rekord lag bei 4,88 Prozent im Jahr 1963).
2. Weiche Verteidigungsausgaben: Eine neue Kategorie, über deren genaue Ausgestaltung verhandelt werden müsste. Einbezogen werden voraussichtlich Maßnahmen zur militärtauglichen Verstärkung der Infrastruktur – also Straßen, Brücken, Tunnel, Schienen und Häfen. Natürlich kann es sich dabei nur um Strecken und Einrichtungen handeln, die auch militärisch relevant sind.
Denkbar wären in der zweiten Kategorie auch Ausgaben, um die Außengrenze zu schützen. Davon würde Polen profitieren, aber auch Länder wie Spanien und Italien. Sie wollten diese Kosten ursprünglich als „harte Ausgaben“ anrechnen lassen, konnten sich damit aber bislang nicht durchsetzen.
Alle Nato-Mitglieder müssen zustimmen. Die offizielle Entscheidung über die 5 Prozent soll bei der Arbeitssitzung des Nato-Gipfels am 25. Juni in Den Haag fallen. Bis dahin wird noch manche Regierung überzeugt werden müssen – und dann muss sich noch die Hoffnung bestätigen, dass Trump sich in Den Haag wieder zur Nato bekennt.