Der Worst Case gehört gut vorbereitet
Der Denkzettel-Dienstag der Kanzlerwahl war für die Koalitionsspitzen ein Zeichen, auf ihre Mehrheiten zu achten. Für Abgeordnete eine Einladung: „Natürlich wäre es sehr schön gewesen im ersten Wahlgang, aber vielleicht war es auch ein Weckruf an alle, jetzt die Verantwortung auch wahrzunehmen“, sagte Bundestagsvizepräsidentin Andrea Lindholz. Für den politischen Betrieb gilt in ihren Augen: Der Tag sollte auch Anlass sein, den schlechtesten Fall als neue Normalität anzunehmen und nicht als unwahrscheinliche Ausnahme.
„Wir müssen lernen, optimal vorbereitet zu sein und auch in Worst-Case-Szenarien zu denken“, sagte die CSU-Politikerin SZ Dossier. „So hätte direkt aufgezeigt werden können, dass es hier zwei Wege gibt, um die Situation aufzulösen.“ Es dauerte aber am Dienstag einige Stunden, bis der zweite Weg – die Fristverkürzung zum zweiten Wahlgang – allen klar und einsichtig, unter den Fraktionen abgestimmt, intern kommuniziert und umgesetzt war.
Knappe Mehrheiten der Regierungsfraktionen und eine starke und radikale AfD-Opposition sind für Lindholz Anlass genug, von der Vorstellung eines gemütlichen, kollegialen parlamentarischen Betriebs Abschied zu nehmen. Die Abgeordnete aus Aschaffenburg weiß um Widerstände und Gegenargumente. „Wenn man dieses Planspiel von Anfang an so durchgespielt hätte, hätte das natürlich auch bedeutet, dass man der eigenen Mannschaft nicht vertraut“, sagte sie. „Trotzdem sollte man vorbeugend alle Optionen durchspielen, die Situation hat sich einfach verändert.“
Sie selbst sei auch davon ausgegangen, dass die Kanzlerwahl im ersten Anlauf funktioniert. „Ich habe ehrlicherweise nicht damit gerechnet, dass der erste Wahlgang negativ ausgeht“, sagte sie im Gespräch tags darauf in ihrem Büro, mit Blick auf den Reichstag. War das Präsidium ausreichend vorbereitet? „Julia Klöckner und ich hatten darüber gesprochen“, sagte Lindholz. „Schließlich muss jedes Szenario durchdacht werden: Wenn das eintritt, was ist dann vorgesehen?“
Der Normalfall der Geschäftsordnung war rasch eruiert. „Auch wenn sich die Situation erst einmal als überraschend bis schockierend darstellte, war schnell klar: Wenn wir nach dem vorgesehenen Verfahren der Geschäftsordnung handeln, können wir frühestens am Freitag in den zweiten Wahlgang eintreten“, sagte Lindholz. Das aber war eine Erkenntnis, zu der „viele“ Abgeordnete erst nach der verpassten Kanzlermehrheit kamen, sagte Lindholz.
„In persönlichen Gesprächen habe ich festgestellt: Es war vielen einfach nicht klar, was die Folgen eines Scheiterns im ersten Wahlgang sind“, sagte sie. „Viele dachten, wenn der erste Wahlgang nicht funktioniert, machen wir eben unmittelbar einen zweiten. Und wenn der nicht funktioniert, dann den dritten, so wie es bei anderen Wahlen der Fall ist.“
Dass das nicht so vorgesehen ist, ist das eine. Dass das Parlament aber mit einer Zweidrittelmehrheit im Plenum von seiner eigenen Geschäftsordnung abweichen kann, regelt ebendiese. Ob ein zweiter Wahlgang am Dienstag doch möglich war, wurde aber erst juristisch geprüft, als der Fall eintrat, nicht schon vorsorglich: „Nach Prüfung, auch durch die Bundestagsverwaltung, kamen wir zu dem Schluss: Das würde gehen, wäre alles heute machbar“, sagte Lindholz. „Die Fraktionen haben von dieser Möglichkeit auch Gebrauch gemacht und dieser Vorgang zeigt, dass die Demokratie funktioniert.“
Auf die in der Union seither wieder lebhaft geführte Debatte, ob die Abstimmung mit Grünen und der Linken ihre Brandmauer nach links in Frage stellt, hat Lindholz einen Blick, der die Funktionsfähigkeit des Betriebs in den Mittelpunkt stellt.
„Verfahrensfragen sind für mich gedanklich von Inhalten zu trennen. Wenn wir auch noch anfangen würden, dass wir uns als Parlament in Verfahrensfragen nicht mehr verständigen, dann können wir den Betrieb auch bald einstellen“, sagte sie. Im Übrigen: „Der Wunsch nach einem zweiten Wahlgang am gleichen Tag bestand nicht nur bei den Regierungsfraktionen.“
Zur neuen Normalität des Parlamentsbetriebs in einem politischen Spektrum, in dem der rechte Rand schon 20 Prozent einnimmt, gehören rauere Sitten, Provokationen, Zwischenrufe. Gefragt nach dem Umgang damit, kündigte Lindholz einen Kurs der Umsicht an: „Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Die Redefreiheit ebenfalls. Unsere Aufgabe im Präsidium muss es sein, zum richtigen Zeitpunkt zu ermahnen, was Störungen und Zwischenrufe angeht“, sagte sie. „Wir müssen einschreiten, wenn die Würde und Ordnung des Bundestages verletzt wird. Das gilt für alle Fraktionen und Abgeordnete.“
Die wichtigste Eigenschaft, die man an der Stelle mitbringen muss? Für Lindholz dies: „Dass man ruhig, umsichtig und konsequent die Dinge anpackt.“