Brüssel einige Jahre von innen erlebt zu haben, wird kein Nachteil sein für den Bundeskanzler. Friedrich Merz hat seine politische Karriere im Europaparlament begonnen und wird dort heute wie in einem alten Zuhause begrüßt werden: Parlamentspräsidentin Roberta Metsola wird seinen „Heimvorteil“ herausstreichen, wenn sie ihn als „zuverlässigen Partner für Europa“ willkommen heißt.
Metsolas Erwartungen an Merz: „Mit seiner Erfahrung, auch als früheres Mitglied des Europäischen Parlaments, weiß ich, dass er ein tiefes Verständnis für die Funktionsweise und die Dynamik der Europäischen Union und ein umfangreiches Netzwerk in Brüssel und darüber hinaus hat“, sagte Metsola SZ Dossier. „Das macht Bundeskanzler Merz zu einer starken Stimme für Deutschland in Europa und auch zu einem Fürsprecher für Europa in Deutschland.“
Auf der Agenda: Die beiden werden über Wettbewerbsfähigkeit sprechen wollen, über Bürokratieabbau und Vereinfachung. Bei einem Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dürfte es um dieselben Themen gehen. Erste Schritte sind bereits eingeleitet, aber gerade in der CDU ist die Skepsis gegenüber europäischen Vorschriften weit verbreitet. Metsola und von der Leyen sind für Merz alte Bekannte aus der christdemokratisch-konservativen Europäischen Volkspartei.
Besuch am symbolischen Datum: Wenn Merz heute Brüssel besucht, überlagern sich Geschichte und Realität. Heute vor 75 Jahren präsentierte der damalige französische Außenminister Robert Schuman den Gründungsakt der späteren Europäischen Union. Die von ihm vorgeschlagene Gemeinschaft für Kohle und Stahl wurde zum Nukleus aller späteren Institutionen und diese feiern immer am 9. Mai Europatag. Wie Schuman es vorausgesagt hatte, wurde Europa „nicht in einem Anlauf“ geschaffen, sondern zum stetigen Prozess, mit Solidarität als wichtigstem Element.
Ein Erbe zu verteidigen: Die Solidarität aber hat Risse. Darüber wird der Kanzler morgens um 9 Uhr mit dem Präsidenten des Europäischen Rates, António Costa, sprechen können. Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico etwa will heute Gast der Militärparade in Moskau sein; es war eine längere Anreise, denn die baltischen Staaten sperrten ihren Luftraum für seine Maschine. Der Ungar Viktor Orbán ergreift regelmäßig Partei für Wladimir Putin, aus Rumänien könnte bald ein weiterer EU-Skeptiker in die Runde der Staats- und Regierungschefs einziehen.
Kohl, Merkel – Merz? Auch wenn viele in der EU von Deutschland, Frankreich und Polen mehr Führung erwarten als bisher – ein deutscher Kanzler muss die Interessen der anderen Länder vom großen Italien bis Malta und Luxemburg verstehen und berücksichtigen. Das gilt in Sachen Weltpolitik ebenso wie für die Schengen-Regeln. Merz‘ Vorbild Helmut Kohl war ein Meister dieser Art von Koalitionsbildung. Seine Nemesis Angela Merkel auch.