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Tiefgang

Szenen eines historischen Tages

Es ist kurz nach 14 Uhr, da sieht es so aus, als könnte für Friedrich Merz aus einem bescheidenen noch ein erträglicher Tag werden. Auf der Fraktionsebene des Reichstages tritt Lars Klingbeil an die Mikrofone: Linke, Grüne, Union und SPD werden gemeinsam beantragen, „dass es heute zu einem zweiten Wahlgang kommt“, sagt der SPD-Chef. Er sei dafür „sehr dankbar“. Damit ist klar: Um 15.15 Uhr bekommt Friedrich Merz, bekommt die Koalition aus CDU, CSU und SPD noch eine Chance, um die ganz, ganz große Katastrophe abzuwenden.

Dabei hatte der Tag ganz gut begonnen: Merz‘ Frau und die beiden Töchter hatten auf der Besuchertribüne des Reichstages Platz genommen, Altkanzlerin Angela Merkel war gekommen und wurde auf der Tribüne eingerahmt vom geschäftsführenden Finanzminister Jörg Kukies und der früheren Parlamentspräsidentin Rita Süssmuth. Und um 09.01 Uhr eröffnete Julia Klöckner die Sitzung; sie freute sich über „die fröhliche Stimmung im Hause“. Es war angerichtet. Und Merz kurz vor dem Ziel.

Die Geschichte eines politischen Comebacks sollte an diesem Vormittag ihren Höhepunkt finden. Denn eigentlich war Merz ja schon raus. Nachdem er 2002 das Duell mit Angela Merkel um den Fraktionsvorsitz verloren hatte, zog er sich Stück für Stück aus der Politik zurück. 2018 dann der Neuanfang: Merz bewarb sich um Merkels Nachfolge an der Spitze der CDU. Und scheiterte, zweimal gleich. Erst 2021, im dritten Anlauf, wählte ihn seine Partei zu ihrem Vorsitzenden. Jetzt sollte sein Lebenstraum in Erfüllung gehen. Endlich Kanzler.

Kurz nach 9 Uhr ruft Bundestagspräsidentin Klöckner den ersten Tagesordnungspunkt auf, die Wahl des Bundeskanzlers. Klöckner und die beiden Schriftführer rattern die Namen der 630 Abgeordneten herunter, rufen sie zur Wahl auf. Doch bereits kurz bevor die Chefin des Hauses das Ergebnis bekannt gibt, verdunkeln sich die Mienen der führenden Köpfe. Klöckner tauscht sich mit den Parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen aus, auch mit dem Sitzungsvorstand. Merz steht in einer Runde mit Jens Spahn, Alexander Dobrindt, Andrea Lindholz und Steffen Bilger zusammen – auch sie wirken angespannt.

Noch bevor Klöckner ansetzt, um das Ergebnis zu verlesen, macht eine Nachricht die Runde: „Merz im ersten Wahlgang NICHT gewählt“. Dann die Gewissheit: 310 Abgeordnete stimmen mit Ja, 307 mit Nein, drei enthalten sich, eine Stimme ist ungültig. Damit war klar: Merz ist durchgefallen, seine Regierung ist noch nicht einmal im Amt, da steht das Land schon kurz vor einer Staatskrise.

Es ist nicht der erste schwere Schaden, den diese Kanzlerschaft erleidet: Seitdem Merz und seine Mitstreiter mit den Stimmen der Grünen die Schuldenbremse teilweise aussetzten und ein milliardenschweres Sondervermögen beschlossen, steht der Vorwurf im Raum, Merz habe sein Wort gebrochen. Zweifel kamen auf, wie er mit dieser Hypothek überhaupt noch das Vertrauen in der Bevölkerung zurückgewinnen könne. Und jetzt das. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik fiel ein designierter Kanzler bei der Wahl im Plenum durch.

Dementsprechend weiß auch erst einmal niemand so wirklich, wie es weitergeht. Beratschlagt wird in den Räumen der Union auf der Fraktionsebene. Um 10.29 Uhr kommt dort Lars Klingbeil heraus – wortlos. Wenige Minuten später Merz. Er geht in den Fraktionssaal der Union. Dort gibt es stehenden Applaus für den Gescheiterten. Sehr gefasst, sehr geschlossen, sei die Stimmung gewesen, sagt ein Sprecher hinterher.

Das Problem ist: Auch vonseiten der SPD heißt es, alle Abgeordneten hätten zugestimmt. „Wir sind auch komplett“, sagt ein Sprecher. Aber wer war es dann? Wer hat Merz die Gefolgschaft versagt? Ein Unionsabgeordneter spricht von Unzufriedenheit bei der SPD. Dass die Abweichler aus den eigenen Reihen kommen, weil etwa auch die Junge Union unzufrieden mit dem Verlauf der Koalitionsverhandlungen war, könne er sich nicht vorstellen. Fest steht zu diesem Zeitpunkt nur: Um das Vertrauen untereinander steht es in dieser Koalition nicht zum Besten.

Die Oppositionsparteien wissen das natürlich zu nutzen. Für die Koalition gehe es jetzt darum, zu klären, ob sie eine Arbeitsgrundlage hat, sagt Katharina Dröge, die Fraktionsvorsitzende der Grünen. Sie und Britta Haßelmann werden während einer Pressekonferenz gefragt, ob die Grünen im Fall der Fälle bereitstünden, in eine Koalition mit Union und SPD einzutreten. Das muss man sich einmal vorstellen: CDU und CSU, die im Wahlkampf noch gegen die Grünen lederten – plötzlich angewiesen auf deren Hilfe.

Es kommt aber noch dicker. Bernd Baumann, der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, baut sich auf der Fraktionsebene auf und sagt, seine Fraktion werde auf jeden Einspruch verzichten und wolle, dass sofort ein zweiter Wahlgang stattfindet. „Deutschland braucht Stabilität“, sagt Baumann. Das Bündnis von Union und SPD sei hingegen eine „Koalition der Instabilität“. Damit ist der Tiefpunkt für Merz an diesem Tag erreicht: Die seit wenigen Tagen als gesichert rechtsextreme eingestufte AfD geriert sich als Garant der Stabilität und wirft Merz und seinem Bündnis vor, genau das nicht zu sein.

Und noch immer ist nicht klar, wie es weitergeht. Wann findet der nächste Wahlgang statt? Früh am Vormittag gilt es als ausgeschlossen, dass heute noch etwas geht. Im ersten Anlauf hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dem Bundestag vorgeschlagen, Merz zum Kanzler zu wählen. So ist das üblich.

Nun muss ein neuer Vorschlag her, der muss aus dem Parlament kommen – und darüber kann laut Geschäftsordnung erst nach drei Tagen beraten werden, also am Freitag. Die Frist kann verkürzt werden, dafür braucht es aber eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Außerdem, so heißt es am Vormittag noch, bleibe eine Minimalfrist. Vor Mittwoch gehe nichts. Das stellt sich zwar später anders heraus, ein zweiter Wahlgang am selben Tag ist offenbar möglich.

Ein Problem aber bleibt: die Zweidrittelmehrheit. Dafür braucht es Grüne und Linke. Darüber beraten nun Vertreterinnen und Vertreter von Union, SPD, Grünen und Linken. Kurz vor 14 Uhr kommt Jens Spahn heraus, dann auch Grüne und Linke. Die Frage: Ist die Union bereit, mit der Linken in dieser Sache zusammenzuarbeiten, schließlich gibt es einen Unvereinbarkeitsbeschluss.

Sie ist es. Nach Klingbeil tritt auch Jens Spahn vor die Medien. Ganz Europa, vielleicht sogar die ganze Welt, schaue auf diesen zweiten Wahlgang, sagte der Fraktionsvorsitzende der Union. Er dankt allen, „die das mit möglich gemacht haben“. Um sein politisches Lebensziel zu erreichen, war Friedrich Merz also auf die Hilfe der Grünen – und der Linken angewiesen. Dieser Makel wird bleiben. Tim Frehler, Gabriel Rinaldi