Am Abend fand Friedrich Merz beschwichtigende Worte für das, was sich gestern im politischen Berlin abgespielt hat. „Es ist ein ehrlicher Tag gewesen, aber am Ende des Tages auch ein Vertrauensbeweis der Koalition aus CDU, CSU und SPD“, sagte Merz der ARD in seinem ersten Interview als Kanzler. Er habe „keinen Zweifel“, dass die Koalition „vertrauensvoll zusammenarbeiten“ werde. Dass nicht alle zustimmen, sei normal, sagte Merz.
Hängepartie: Dass er dieses Interview überhaupt geben konnte, war gestern lange unklar. Am Ende waren es 325 Stimmen, die ihn zum Bundeskanzler machten. Immer noch drei weniger als die schwarz-rote Mehrheit von 328 Abgeordneten – aber genug, um ins Schloss Bellevue zu fahren, wo Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bereits mit der Ernennungsurkunde auf ihn wartete.
Was zuvor geschah: Merz war als erster designierter Bundeskanzler jemals in der ersten Wahlrunde gescheitert, wo er nur 310 der notwendigen 316 Stimmen erhalten hatte. Heißt: 18 Abgeordnete aus Union oder SPD haben ihm die Gefolgschaft verweigert. Die weiteren Fraktionen versicherten, nicht für Merz gestimmt zu haben. Wie es dazu kam, dass er am Abend trotzdem zum Kanzler ernannt wurde, berichten wir heute im Tiefgang.
Niemand will es gewesen sein: Durch einen politischen Deal mit Linken und Grünen schafften es die Koalitionäre, noch am selben Tag einen zweiten Wahlgang durchzuführen. Über Abweichler in seinen Reihen wollte SPD-Chef Lars Klingbeil gestern nicht spekulieren, entscheidend sei: „Wir haben einen neuen Bundeskanzler.“ In seiner Fraktion habe es eine große Ernsthaftigkeit gegeben. „Da hat jeder gesehen, um was es geht“, sagte er am Abend im ZDF. Im letztlich erfolgreichen zweiten Wahlgang hätten zudem alle Beteiligten die Größe der Verantwortung erkannt.
Allerdings erst im zweiten Wahlgang: Ohne die Hilfe der Opposition wäre Olaf Scholz nämliche heute noch geschäftsführender Bundeskanzler, Merz hätte seinen zweiten Wahlgang erst am Freitag bekommen. Wie Bundestagspräsidentin Julia Klöckner erläuterte, haben die vier Fraktionen mit ihrer Zweidrittelmehrheit beschlossen, von der Geschäftsordnung abzuweichen. Über diesen Vorschlag, der aus der Bundestagsverwaltung kam, hatten sich führende Köpfe der vier Parteien in verschiedenen Konstellationen stundenlang unterhalten.
Ernste Lage: Steffen Bilger, neuer PGF der Unionsfraktion, mahnte in einer kurzen Aussprache vor der Wahl, die Kanzlerwahl sei die wichtigste Wahl, die dem Bundestag obliegt. „Die Lage ist, wie sie ist, die Lage ist ernst“, betonte er. Es sei angemessen, in den zweiten Wahlgang zu gehen, der Name des Kandidaten sei allen bekannt. Bilger bedankte sich ausdrücklich auch bei der Linken, mit der es in der Union eigentlich ein Kooperationsverbot gibt. Auch die AfD stimmte für die Ausnahme von der Geschäftsordnung, die damit von allen Fraktionen angenommen wurde.
So wahr ihm Gott helfe: Zu Beginn der Wahl, die in der zweiten Runde ohne Namensaufruf stattfand, ging Scholz zu Merz und reichte ihm die Hand. Der scheidende Kanzler gehörte auch zu seinen ersten Gratulanten und war sichtlich erleichtert. Nach dem Scheitern des ersten Wahlgangs war Scholz noch kopfschüttelnd von dannen gezogen und wirkte aufgewühlt. Am Ende reichte es für Merz: Beim Bundespräsidenten erhielt er seine Ernennungsurkunde, wurde damit offiziell Kanzler. Zurück im Bundestag sprach er vor seiner Familie und deutlich ausgedünnten Besuchertribünen den Amtseid.