Braucht eine Regierung eine große Erzählung?
Wohl kaum etwas beschreibt das Selbstverständnis der künftigen Regierung so wie das Motto, das sie sich gegeben hat: „Verantwortung für Deutschland“ steht auf dem Titelblatt des Koalitionsvertrages.
Die nüchterne Wortwahl rief umgehend die ersten Kritikerinnen und Kritiker auf den Plan: Wo bleibt der große Wurf? Wo will diese Koalition hin? Welche Botschaft will sie vermitteln? Vermisst wurde: ein Narrativ, eine Erzählung, die große Geschichte. Aber braucht es das eigentlich? Die Ampel nannte sich schließlich „Fortschrittskoalition“. Der Ausgang ist bekannt.
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler sieht die Sache so: Vor allem den Parteien der Mitte fehlten derzeit die großen Erzählungen. Und er sieht darin ein Problem. In seinem kürzlich erschienenen Buch „Macht im Umbruch“ geht er unter anderem der Frage nach, worauf es im Hinblick auf politische Führung in Europa in Zukunft ankommt – angesichts der sich verändernden Weltordnung.
Gefragt ist laut Münkler eine Macht, die nicht nur ihr Eigeninteresse, sondern das Wohl der gesamten EU im Blick hat, eine dienende Führungsmacht, ein servant leader. Die müsse zwar einerseits zwischen den einzelnen Mitgliedsländern vermitteln, aber auch die Initiative ergreifen können. Sie muss in der Lage sein, voranzugehen. „Führung von vorn“ heißt das bei Münkler.
Was aber hat das mit der Frage zu tun, ob eine Regierung ein Narrativ braucht? Münkler nennt mehrere Bedingungen, die diese Macht – er denkt dabei an Deutschland – erfüllen muss, um die von ihm erdachte Rolle ausfüllen zu können. Einerseits benötige sie entsprechende Ressourcen und Fähigkeiten. Das Allerwichtigste sei aber, dass ihr „die eigene Bürgerschaft nicht das Mandat entzieht, indem sie populistische Parteien an die Macht bringt“.
An dieser Stelle kommen die großen Erzählungen ins Spiel. Sie „sind die eigentlichen Stifter von Zukunftsgewissheit und Politikvertrauen“, schreibt Münkler. Sie könnten eine Brücke schlagen zwischen der politischen Klasse und der breiten Bevölkerung. Ein Narrativ sollte demnach der Kitt sein, der die Parteien der politischen Mitte und die Gesellschaft verbindet.
Das Problem ist: Genau dort, wo der Kitt sein sollte, sieht Münkler eine Leerstelle. Aus seiner Sicht waren es vor allem Links- und Rechtspopulisten, die in den vergangenen Jahren die großen Erzählungen anboten – allerdings mit dem Ziel, das Gegenteil zu erreichen, „nämlich Zukunftsgewissheit und Politikvertrauen zu zerstören“. Die Zukunft sei in deren Beschreibungen „vor allem ein Raum der Angst“, schreibt Münkler, die Vergangenheit dagegen „eine heile Welt“.
Die Parteien der Mitte hätten dem nichts entgegenzusetzen, auch weil es ihnen an Strategiefähigkeit und strategischen Denkern fehle. Eine große Erzählung sieht er als „das narrative Gegenstück zu Strategien“. An beidem gelte es zu arbeiten.
Der Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach geht es ebenfalls um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sie spricht sich aber für einen anderen Ansatz aus. Sie sieht in der Ampel und ihrem Fortschrittsmotto ein mahnendes Beispiel: Die Erosion der Verlässlichkeit in der vergangenen Legislaturperiode sei Gift gewesen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, schrieb Reuschenbach kürzlich in einem Gastbeitrag für Table Briefings.
Sie sprach sich dagegen für einen „Aufbruch durch Verlässlichkeit“ aus. Das kann man auch so verstehen: Statt großer Visionen kommt es auf einen anderen Regierungsstil an – einen, bei dem Kompromisse ein Wert an sich sind, bei dem sich die Partner gegenseitig Erfolge gönnen, der Sicherheit ausstrahlt.
Ob eine Regierung also eine große Geschichte braucht, darüber gehen die Meinungen in der Fachwelt auseinander. Wie aber sieht es bei denen aus, die sich damit in der Praxis auseinandersetzen müssen?
Ricarda Lang war Teil der „Fortschrittskoalition“ und findet, eine Regierung brauche eine große Erzählung. „Man kann die neue Weltordnung nicht verwalten, sie wird gestaltet werden“, sagte Lang SZ Dossier. „Und wenn wir sie nicht gestalten, wenn wir keine Zukunftsvision haben, wenn wir nicht um die Herzen der Menschen kämpfen, dann werden es andere tun.“
Ähnlich wie Münkler räumt auch Lang ein, die klarere Zukunftserzählung hätten gerade die Populistinnen und Populisten. Sie bestehe aus einem „extrem autoritären und einem hyperindividualistischen Nationalismus“ – also „der Abschaffung demokratischer Errungenschaften und gleichzeitig dem egoistischen Versprechen, ‚nach mir die Sintflut‘ und man muss sich nicht mehr darum kümmern, wie es Menschen in anderen Teilen der Welt geht“.
Deswegen müssten diejenigen, die die liberalen und demokratischen Werte bewahren wollen, „raus aus der Verteidigungshaltung“, sagt Lang. „Sie müssen ein eigenes Zukunftsnarrativ setzen.“ Genau das sei die Aufgabe einer neuen Regierung.
Die Frage ist nur, wie das aussehen kann. Das Versprechen, dass alles so bleibt, wie es ist, könne es jedenfalls nicht sein, sagt Ricarda Lang. „Die Menschen spüren doch, dass eben nicht alles ganz normal ist, dass Donald Trump gewählt wurde, dass wir Krieg auf europäischem Boden haben, dass sich die wirtschaftliche Situation an vielen Stellen verschlechtert.“ Wenn sie aber merkten, sie bekämen nur die halbe Wahrheit erzählt, „werden sie misstrauisch“.
Politikerinnen und Politiker müssten also ehrlich kommunizieren, dass sich etwas verändern werde. „Und dann aber auch beschreiben, wo es hingehen kann und wer die Kosten dafür trägt“, sagt Lang. Dabei dürfe es nicht nur um die Abwehr von Schlimmerem gehen, denn damit werde man die Auseinandersetzung mit Populistinnen und Populisten nicht gewinnen.
Vielmehr müsse es darum gehen, was es in Zukunft zu gewinnen gibt – beim Thema Klimaschutz zum Beispiel komme es darauf an, darüber zu reden, wie eine Bahn aussehen kann, auf die man sich wieder verlassen kann. Oder darüber, welche Jobs in Europa im Bereich grüner Energien entstehen können.
Union und SPD haben sich für einen anderen Ansatz entschieden, für eine Arbeitskoalition. Was aber spricht dagegen, beides zu vereinen? Kärrnerarbeit und eine Zukunftsvision. Eigentlich nichts.