Wie es mit der Ukraine weitergeht: Drei Szenarien
Nach dem Eklat im Weißen Haus ist der zuvor erwartete Pfad zu einem Waffenstillstand in der Ukraine und damit zu einem – unsicheren – Frieden verschüttet.
Drei Möglichkeiten für die weitere Entwicklung:
Szenario 1: Die USA kappen die Unterstützung, der Krieg geht weiter. Die Abhängigkeit der ukrainischen Verteidigung von US-Material und -Fähigkeiten ist enorm. Da die Front sich seit Sommer 2022 tendenziell zuungunsten der Ukraine verschoben hat, lässt sich sagen: Mit US-Unterstützung, dem „entscheidenden Rettungsanker“ für die Ukraine, herrschte eine ungefähre Kräftegleichheit. Ohne sie wird Russland voraussichtlich schneller vordringen können.
Wenn die ukrainische Verteidigung zusammenbricht, wird sich die Front rasch weiter ins Kernland des angegriffenen Landes verschieben. Putins ursprüngliches Kriegsziel Kyiv rückt dann wieder in Reichweite.
Der Knackpunkt: Waffen sind wichtiger als Geld. Ein Großteil der US-Milliardenhilfen wird keineswegs in die Ukraine überwiesen. Für das Geld wird in den USA Material beschafft, das das Pentagon dann ins Kriegsgebiet schickt.
Die Einkaufsliste ist lang. Unter anderem stehen darauf die Panzerabwehrrakete Javelin, die Luftabwehrsysteme Patriot, Hawk und Nasams, die Flugabwehrraketen Stinger, Aim und Avenger, das Antidrohnensystem Vampire, zehn verschiedene Drohnenmodelle, Helikopter, Anti-Schiffs-Raketen zur Küstenabwehr, Raketenwerfer, Radarstationen, Haubitzen, Artilleriemunition, Granaten, Panzer vom Typ Abrams, Bradley und T-72B, Minensuchausrüstung, und vieles mehr.
1a: Trump mobilisiert keine zusätzliche Hilfe, lässt aber weiter die bereits zugesagte Ausrüstung liefern. In diesem Fall schickt Amerika noch für Jahre Militärgerät – 2025 sogar mehr als je zuvor. Denn die Haushaltsposten aus der Biden-Zeit sind verplant, die physischen Geräte aber noch längst nicht alle verschifft. Das Pentagon wartet in der Regel, bis Ersatzlieferungen von den Rüstungsherstellern absehbar sind, bevor es die Flüge mit Material losschickt. Die Bearbeitung der Aufträge dauert jedoch selbst in den USA viele Monate.
In diesem Fall könnte die Ukraine noch monatelang durchhalten, weil der Strom an Munition, Raketenwerfer, Drohnen und so weiter vorerst nicht abreißt. Dieses Szenario lässt auch die Möglichkeit offen, dass Europa mit Hilfsgeldern in den USA Waffen für die Ukraine bestellt. Auf jeden Fall bringt es Zeit.
1b: Trump stoppt diese Lieferungen. Die Wirkung wäre katastrophal, und das sofort. Es kommt im Krieg auf die schiere Menge Material an, das verbraucht und ersetzt werden kann. Ein großer Teil des bereits bezahlten Geräts gehört zwar rechtlich der Ukraine, aber Trump wird das kaum respektieren, wenn er die Ausfuhr verbietet.
Wenn Trump auch die Nutzung von intelligenten Waffen behindert, die schon auf dem Schlachtfeld im Einsatz sind – zum Beispiel durch Softwaresperren oder die Verweigerung von Ersatzteilen – ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Front kollabiert.
Können die Europäer einspringen? Europa kann zwar mehr Geld aufbringen. Doch mit Geld allein lässt sich nicht so richtig etwas anfangen. Die Ukraine braucht in erster Linie Waffen und Aufklärung. Das Geld ist Mittel zum Zweck des Waffenkaufs, und in den USA erfüllt es diesen Zweck, weil das Pentagon so große Vorräte hat und die US-Waffenindustrie viel liefern kann.
Europas Kapazitäten für eine eigene Herstellung von Waffen sind dagegen bereits am Limit. So haben die Niederländer bereits ihre F-16-Jets in die Ukraine verschifft, und für Panzer musste das Kanzleramt einen Ringtausch organisieren. Die europäische Rüstungsbranche arbeitet zu langsam, um sofort viel liefern zu können.
Folgen für Deutschlands Sicherheit: Nach einem hypothetischen Fall der Ukraine würde Putin dort vermutlich einen Moskau-treuen Staatschef installieren. Das russische Einflussgebiet schöbe sich dann auch von Süden an Polen heran. Lwiw ist nur neun Fahrstunden von Berlin entfernt. Im Osten grenzt Polen bereits an den russischen Vasallenstaat Belarus.
Russlands Rüstungsmaschinerie fährt jetzt erst richtig hoch, die Herstellung von Munition soll in diesem Jahr noch einmal um ein Drittel steigen. Europäische Staatshaushalte würden enorm belastet durch die Kosten, das siegreiche Russland ohne amerikanische Rückendeckung abzuschrecken.
Szenario 2: Bauernopfer Selenskij. Um Trump zu besänftigen, könnte die Ukraine neues Personal ins Rennen schicken. Der Präsident würde zurücktreten und jemand anderes müsste einen neuen Anlauf in Washington machen – Schmeicheleien und Demutsgesten inklusive.
Aber will Trump überhaupt besänftigt werden? Seine Parteinahme für Putin ist beispiellos. Es bleibt der Verdacht, dass ihm und J. D. Vance die diplomatische Kernschmelze im Weißen Haus nur allzu recht war, um Punkte für Putin zu sammeln. Dafür spricht die ungewöhnliche Vorgehensweise, vor laufenden Kameras so tief in inhaltliche Fragen einzusteigen, ohne erst hinter verschlossenen Türen verhandelt zu haben. Unter anderem das Magazin Economist sprach sogar von einer Falle, in die Vance Selenskij gelockt habe.
Szenario 3: Rückkehr zu Gesprächen mit den USA unter Selenskij. Das würde eine Fortsetzung der US-Unterstützung bis zum Waffenstillstand erlauben. Dieses Szenario hat das geringste kurzfristige Katastrophenpotenzial.
Falls Selenskij sich entschuldigt, wie von US-Außenminister Rubio gefordert, und sich nochmals demütig bei den USA bedankt, wie von Vance gefordert, gebe es keinen vernünftig erscheinenden Grund, warum Trump den von ihm selbst durchgedrückten Rohstoffdeal ablehnen könnte. Die US-Unterstützung könnte vorerst unverändert weiterlaufen.
Diese Lösung wäre unbefriedigend, ist aber zum jetzigen Zeitpunkt besser als ein Bruch der USA mit der Ukraine. Finn Mayer-Kuckuk
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