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Tiefgang

Vertrauen wichtiger als Verträge

„Besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, lautete der Satz aus dem Jahr 2017, mit dem Christian Lindner in Erinnerung bleiben wird. Im Jahr 2025 kommt für CDU/CSU und SPD nicht regieren nicht in Frage, das ist alternativlos, wie die Vor-Vorgängerin des Kanzlers Friedrich Merz sagen würde. Und falsch regieren können sich die drei Parteien auch nicht leisten, denn ihre große Koalition ist die kleinste, die es je gab und muss beweisen, dass die Mitte hält. „Am Ende ist das Vertrauensverhältnis der Spitzenleute entscheidend für das Funktionieren einer Koalition“, sagt ein CDU-Politiker, der früher in vielen Koalitionsgesprächen saß.

Friedrich Merz will eine „handlungsfähige Regierung“ bis Ostern. Viele Regierungen der anderen europäischen Staaten dürften das genauso sehen angesichts der vermutlich bald anstehenden Entscheidungen darüber, wie sich die EU in der Welt positionieren will. „Wir Europäer müssen sehr schnell handlungsfähig sein und unsere Verteidigungsfähigkeit organisieren“, sagte Merz gestern.

Auch die SPD hat am Montag viel von Verantwortung geredet. Es ist eine historisch schwache SPD, doch ohne sie ist kein Staat zu machen: Nur mit den Sozialdemokraten kann die Union keine Regierung bilden, wenn sie bei ihrem AfD-Ausschluss bleibt. Also denkt man sich im Willy-Brandt-Haus wohl, man könnte sich schon ein wenig zieren.

Man lässt sich bitten: „Der Ball liegt im Feld von Friedrich Merz“, macht Lars Klingbeil klar, der neue starke Mann, noch Parteichef und designierter Fraktionsvorsitzender. Ob die SPD in eine Regierung eintrete, stehe noch nicht fest. Für die geschlagene Scholz-Partei geht es natürlich nun darum, den eigenen Preis in die Höhe zu treiben. Dass man sich jetzt noch nicht klar äußert, schiebt die Parteiführung dann darauf, dass schließlich die Mitglieder der SPD über den Eintritt in eine Regierung unter Merz entscheiden müssten. Zu laut Hurra schreien kann die Parteispitze auch deshalb nicht, weil sich etwa bei den Jusos Unmut darüber regt, dass der für das Wahldebakel mit verantwortliche Klingbeil gleich einen weiteren Spitzenposten beansprucht.

„Es geht darum, was das beste für das Land ist“, werden Klingbeil, Co-Chefin Saskia Esken (die einen Rücktritt am Montag ausgeschlossen hat) und Noch-Kanzler Scholz nicht müde zu sagen.

Also wird es jetzt vordergründig erst einmal um einen Koalitionsvertrag gehen. Die Länge der Verhandlungen und die Ausführlichkeit des Vertrages sind allerdings nicht entscheidend für den Erfolg einer Koalition. 1994 (Schwarz-Gelb unter Helmut Kohl) und 1998 (Rot-Grün unter Gerhard Schröder) reichten jeweils knapp vier Wochen und die Kanzlerwahl konnte direkt nach dem Zusammentreten des neuen Bundestages stattfinden. Die Ampel benötigte zweieinhalb Monate inklusive Parteitagen und Urabstimmungen. Der Koalitionsvertrag hatte stramme 177 Seiten.

Schon unter Angela Merkel hatte sich eingebürgert, dass die Verträge detailliert in Arbeitsgruppen verhandelt werden. 10 bis 20 Arbeitsgruppen mit bis zu fünf Mitgliedern pro Partei plus Protokollanten und Experten sitzen dann zusammen. Ein Fest für Lobbyisten. „Da bekommen Sie von allen Papiere zugeschickt, von der Caritas bis zum Bundesverband der Deutschen Industrie“, berichtet ein Insider.

Nimmt man noch die Erfahrung der jüngsten Wahlperiode hinzu, als der Ukraine-Krieg keine drei Monate nach Koalitionsbeginn die Koalitionsvereinbarung teilweise über den Haufen warf, spricht vieles für einen kürzeren Vertrag mit den wichtigsten Projekten und Prinzipien. Oder, wie es sich CDU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt überlegt hat, man verhandelt für jedes Jahr einen neuen Plan.

Am Anfang und erst recht im Alltag ist Einigungswille der Spitzen wichtiger als rote Linien. Ein paar Jahre lang konnten etwa Merkel, der damalige CSU-Chef Horst Seehofer und der damalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel auf höchster Ebene Probleme aus dem Weg räumen, vorher waren es Merkel und Franz Müntefering oder Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Scholz, Lindner und Vizekanzler Robert Habeck gelang so etwas schon lange nicht mehr. „Für Merz wird entscheidend sein, wer auf der SPD-Seite Prokura hat“, sagt der frühere CDU-Minister. „Ist es Klingbeil, ist es Boris Pistorius, oder beide?“