Die Probleme des taktischen Wählens
Friedrich Merz hat jüngst FDP-Chef Christian Lindner mit der Aufforderung erzürnt, die Anhängerinnen und Anhänger der Liberalen sollten doch taktisch wählen: „Vier Prozent sind vier Prozent zu viel für die FDP“ sagte der Kanzlerkandidat der Union und warb damit, die Stimme lieber seiner Partei zu geben. Denn, so Merz' Argumentation: Wer am kommenden Sonntag die FDP wählt, verschenkt womöglich seine Stimme, wenn die Liberalen es nicht über die Fünf-Prozent-Hürde schaffen.
Die FDP hingegen setzt im Wahlkampfendspurt darauf, ihre prekäre Lage als besonders gutes Angebot unter die Leute zu bringen. Nach dem Motto: Eine Stimme für die FDP kann wirklich einen Unterschied machen. Wenn die FDP bei 4,99 Prozent liege, komme es auf jeden an, sagte Lindner am Mittwoch bei einem Auftritt in Bonn, wie mein Kollege Peter Ehrlich berichtet: „Wenn Ihre Stimme den Ausschlag gibt auf fünf Prozent, so einen Deal kann Ihnen keine andere Partei anbieten.“
Stimmen von anderen Wählergruppen anzuwerben, ist keine neue Taktik. Auch in der Vergangenheit ging es bei Wahlen um „Leihstimmen“, mit denen Anhängerinnen und Anhänger eines Lagers einer bestimmten Partei helfen, in den Bundestag einzuziehen und so bestimmte Koalitionen wahrscheinlicher zu machen. So wie 1994, als taktische CDU-Wähler bereits einmal der FDP zum Einzug verhalfen.
Doch dieses Mal kann man sich in den ganzen taktischen Überlegungen auch verlieren, denn den klassischen Lagerwahlkampf früherer Jahre mit den beiden Volksparteien CDU und SPD und einer starken FDP gibt es nicht mehr. Am Sonntag könnten theoretisch sieben Fraktionen in das Parlament einziehen, auch wenn die Umfragen dem BSW keine großen Chancen ausrechnen und nur wenige Institute die FDP klar über der Schwelle sehen.
So wird es schwieriger, die Koalitionsoptionen vorauszusagen. Kommt von den kleinen Parteien nur die Linke ins Parlament, reicht der Union wahrscheinlich ein Koalitionspartner. Schaffen es BSW oder FDP doch, wird wohl ein Dreierbündnis nötig, um die Mehrheit von 316 Sitzen zu erreichen.
Um für klarere Verhältnisse zu sorgen, fordert die linke Kampagnenplattform Campact dazu auf, lieber keine Kleinstparteien wie Volt, die Partei oder die Piraten zu wählen, weil diese Stimmen ohnehin „verschenkt“ seien. Das schwäche SPD, Grüne und Linke, argumentiert Campact, und stärke einen „Rechtsruck“: CDU und AfD würden davon bei der Sitzverteilung im Parlament überdurchschnittlich profitieren. Bei der Bundestagswahl 2021 seien durch die Wahl der Kleinstparteien vier Millionen Stimmen „verloren“ gegangen.
Ohnehin ist Vorsicht geboten, denn die Umfrageergebnisse der Wahlforschungsinstitute sind immer Annäherungen. Und selbst wenn man sich für eine taktische Wahl entscheidet, ist nicht vorhersehbar, ob es eine ausreichende Zahl anderer Menschen auch tut.
Die Entscheidung falle an der Wahlurne, nicht vorher: Das ist ein Argument, das Olaf Scholz (SPD) immer wieder bemüht. Wie bei der Wahl 2021 könne sich auf den letzten Metern noch einiges drehen, darauf hoffte der Kanzler bis noch kürzlich stoisch.
Taktisch wählen kann man auch mit dem sogenannten Stimmensplitting, also indem man Erst- und Zweitstimme unterschiedlichen Parteien gibt, weil man das Ergebnis des Direktmandates beeinflussen will. So ist vermehrt davon zu hören, dass der eine oder die andere darüber nachdenkt, im eigenen Wahlkreis der Person die Stimme zu geben, die die größten Chancen hat, gegen einen aussichtsreichen AfD-Kandidaten zu gewinnen. Auch wenn das hieße, im Zweifelsfall gegen die eigene Überzeugung zu wählen.
Doch auch das Stimmensplitting ist riskant. Wenn eine Wählerin oder ein Wähler die Erststimme an eine Partei und die Zweitstimme an eine andere Partei gibt, kann das nach dem neuen Wahlrecht der Partei des Direktstimmenmandats schaden. Denn nach der Reform, die den stetig wachsenden Bundestag wieder verkleinern soll, fallen die sogenannten Ausgleichs- und Überhangmandate weg. Direktmandate, die nicht über die Zweitstimme gedeckt sind, verfallen.
Deshalb werben die Parteien auf ihren Plakaten zum Schluss noch einmal mit der Forderung, beide Stimmen an sie zu vergeben. Elena Müller