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Tiefgang

Martin Schulz gibt die soziale Demokratie nicht verloren

„Bei zu vielen Bürgerinnen und Bürgern ist das Gefühl, Demokratie bringt automatisch mehr Sicherheit, mehr Stabilität, und alle bekommen immer mehr, weg“, analysiert Martin Schulz die Lage vor der Wahl. Der Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2017 SPD-Kanzlerkandidat und vorher Präsident des Europäischen Parlaments, sieht eine besondere Verantwortung bei allen demokratischen Parteien des nächsten Bundestags, vor allem aber bei der nächsten Bundesregierung.

SZ Dossier begleitet Martin Schulz bei einer Rundfahrt durch dessen Heimat nördlich von Aachen. Es geht um Strukturwandel, die Vereinigten Staaten von Europa und sein Grundvertrauen in die Stärke der deutschen Demokratie.

Schulz empfängt in einem kargen Büroraum in Alsdorf, in einem Gebäude, in dem früher mal Büros der Kokerei des Eschweiler Bergwerkvereins waren. Schulz erhofft sich von der nächsten Regierung eine Konzentration auf Themen, die das Leben der Bürger direkt betreffen.

Demokratie muss dafür sorgen, dass es den Menschen gut geht, dass die wesentlichen Lebensrisiken abgemildert werden“. Zu dieser sozialstaatlichen Verantwortung habe sich neben der SPD auch die CDU/CSU immer bekannt. „Die Parteien, die dieses Land 75 Jahre lang geführt haben, hatten dieses Versprechen immer zentral gestellt. Wenn das erodiert, ist es aus.“

Deswegen müsse die nächste Regierung bis 2029 sichtbare Ergebnisse liefern: Die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung könne nur mit nachvollziehbaren Beschlüssen und Ergebnissen bekämpft werden. „Dazu gehören nicht nur Entscheidungen über Rente und Wirtschaft, sondern auch eher kleine Dinge, die aber direkt im Leben spürbar werden, etwa dass die Bahn wieder pünktlich fährt“, sagt Schulz.

Wir fahren zunächst durch Neubaugebiete von Alsdorf, am Rand steht ein nagelneues Hallenbad. Alles errichtet auf dem Gelände der 1983 stillgelegten ehemaligen Steinkohlegrube Anna. „Die Heimat, in die ich als junger Mann geboren wurde, ist weg“, sagt Schulz ohne negativen Unterton. Denn das Aachener Revier ist für ihn ein Beispiel gelungener Umstrukturierung.

Die Steinkohlebergwerke schlossen über einen langen Zeitraum, die Bergleute, die nicht schon im Rentenalter waren, wurden in andere Bergwerke versetzt, zuletzt in die benachbarten Braunkohlegruben. Die gut ausgebildeten Bergleute waren auch in anderen Betrieben begehrt, etwa bei Automobilzulieferern und anderen Firmen, die als Spin-offs der Technischen Hochschule Aachen entstanden. „Niemand fällt ins Bergfreie hieß das damals“, so Schulz.

Seine Heimat vor Augen glaubt Schulz, dass auch die gerade stattfindende Umstrukturierung der deutschen Industrie gelingen kann. „Der Begriff Strukturwandel hat mich seit meiner Geburt begleitet. Hier hat es funktioniert. Es gab immer Weltuntergangsszenarien, aber die sind nie eingetreten“, so Schulz. Zwischen Aachen und Köln wird in den nächsten fünf Jahren auch der Abbau der Braunkohle enden, aus den riesigen Gruben soll eine Seenlandschaft werden.

Schulz fährt nach Würselen, wo seine politische Karriere im Stadtrat begann, wo er 1987 Bürgermeister wurde und bis heute lebt. Dort in der Kaiserstraße zeigt er die Buchhandlung, die ihm einst gehörte, das neue und das alte Rathaus. Unter anderem mit Geld aus europäischer Strukturförderung für die Steinkohlegebiete konnte Schulz die Stadt modernisieren und ein Freizeitbad bauen lassen.

Schulz, der viele Jahre eines der bekanntesten Gesichter der Europäischen Union war und 2015 den Aachener Karlspreis bekam, glaubt noch immer an die Vereinigten Staaten von Europa. „Wenn wir sie heute hätten, für Handelspolitik, Umweltpolitik, Entwicklungspolitik und äußere Sicherheit, wenn wir das TTIP-Handelsabkommen mit den USA abgeschlossen hätten, wäre es für Donald Trump deutlich schwieriger, Europa unter Druck zu setzen. Die Vereinigten Staaten von Europa wurden immer abgetan, das war ein schwerwiegendes Versäumnis.

Aber auch so könne sich Europa behaupten, jedenfalls wenn Deutschland, Frankreich und die EU-Kommission an einem Strang zögen. „Deutsch-französische Initiativen mit der Kommission gemeinsam sind ein starkes Instrument gegen den Trumpismus.“ Die EU werde aber auch flexibler und pragmatischer werden müssen und sich auf eine multipolare Welt einstellen.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung, deren Leitung Schulz innehat, wird Anfang März 100 Jahre alt, gefeiert wird gut zwei Wochen nach der Bundestagswahl. Schon zehn Jahre nach ihrer Gründung war die Stiftung von den Nazis verboten, wie die SPD und alle linken Organisationen.

Kann die Demokratie erneut scheitern, angesichts demokratiefeindlicher Parteien? „Nein, jedenfalls so lange die Demokratinnen und Demokraten zusammenstehen“, sagt der Stiftungsvorsitzende. „Ebert wird der Satz zugeschrieben: Demokratie braucht Demokraten. Davon hatte die Weimarer Republik nicht genug.“

In der Bundesrepublik dagegen gebe es nach wie vor eine überwältigende Mehrheit von Menschen, die bereit seien, die Institutionen zu verteidigen. „Das hat Weimar nie gehabt. Die Institutionen wurden legal dem Zerstörer Hitler ausgeliefert. Das wäre aus heutiger Sicht in der Bundesrepublik nicht möglich. Peter Ehrlich