Wie die Grünen Wähler mit Migrationshintergrund gewinnen wollen
Die Grünen sind laut Umfragen wieder Nischenpartei. Zehn bis elf Prozent würden sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre, so schlechte Umfragewerte hatten sie zuletzt im Jahr 2018. Zeit, sich mit der Frage zu beschäftigen: Wer könnte die Grünen noch wählen wollen?
Wenn es nach der stellvertretenden Bundesvorsitzenden und vielfaltspolitischen Sprecherin, Pegah Edalatian, geht, sollten künftig mehr Menschen mit Migrationshintergrund ihr Kreuz bei den Grünen machen. Heute kommt der Diversitätsrat zusammen, am Wochenende tagt der Vielfaltskongress der Partei. Beim Parteitag im November wollen sie einen Antrag einbringen. Überschrift: „Wir gestalten die vielfältige Migrationsgesellschaft.“
„Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass die Mehrheit für eine offene und liberale Gesellschaft steht“, sagt Edalatian SZ Dossier. „Manchmal fühlt es sich an, als wäre man damit allein in einer Ecke. Von rechts heißt es, das sei Kulturkampf, von links, es sei Identitätspolitik, selbstreferentiell und spaltend.“ Vielfaltspolitik sei „Freiheitspolitik“.
Für die Grünen ist die Gratwanderung schwierig. Sie wollen und können den Traum nach einer neuen Volkspartei nicht aufgeben, Robert Habeck hat nach wie vor den Anspruch, Bundeskanzler zu werden. Eine gewisse Härte in der Migrationspolitik müssen sie also zeigen. Laut dem jüngsten Politbarometer sind 71 Prozent der Bürgerinnen und Bürger der Meinung, dass „Deutschland die vielen Flüchtlinge aus Krisengebieten nicht mehr verkraften“ könne.
Das bedeutet auch: 29 Prozent sehen es anders. Gut möglich, dass von ihnen einige den Grünen nahestehen oder standen. Inzwischen sind die Landtagswahlergebnisse und Umfragen derart desaströs, dass die Grünen an der Loyalität ihres Kernklientels zweifeln müssen. „Der Kampf für die gleichberechtigte Teilhabe, Freiheit, Feminismus, Vielfalt und Gerechtigkeit sind Teil unserer DNA“, heißt es in dem Antrag, den der Diversitätsrat heute beschließen will.
„Wenn man von morgens bis abends nur hört, wir vertrauen niemanden, wir machen Deutschland dicht, dann wirkt das auf viele Menschen mit Migrationshintergrund abschreckend“, sagt Edalatian, die will, dass sie sich mehr einbringen. „Man muss ihnen sagen: Mach Politik, bring Dich ein, hier geht es auch um Dein Land.“ Sie glaubt, dass es für die Bekämpfung von Rechtsextremen Allianzen brauche. „Es gibt liberale Netzwerke auch in Deutschland, die dagegen arbeiten, sie haben in der Vergangenheit viel erreicht, aber gerade wirken sie müde, frustriert“, sagt sie.
Bei der letzten Bundestagswahl hatten laut Mediendienst Integration rund 14 Prozent der Wahlberechtigten einen Migrationshintergrund, Tendenz steigend. „Grundsätzlich wählen sie nicht anders als die Mehrheitsbevölkerung. Das heißt: Für keinen von uns, für SPD, Union, FDP und uns, sind diese 15 Prozent komplett erreichbar. Wir müssen die ansprechen, die für unsere Themen offen sind“, sagt Edalatian.
Wie also lassen sie sich erreichen? Edalatian, die zum linken Parteiflügel gehört, sagt, es gehe um Ressourcenverteilung. „Für mich ist besonders die Frage nach Ressourcenverteilung wichtig, dabei müssen wir natürlich auch Minderheiten im Blick haben, die strukturell benachteiligt sind. Ich möchte, dass wir mehr Gerechtigkeit schaffen, die Mittelschicht entlasten, die diskriminierenden Vermögensungleichheiten in den Blick nehmen.“ Die Grünen müssten in die Stadtviertel gehen, wo viele Menschen mit Migrationsgeschichte leben, wichtig seien Themen wie Aufstiegschancen, Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, auch Sicherheit, es fehle oft Vertrauen in den Staat.
Erreichten die Grünen diese Menschen tatsächlich, wäre das für sie die Erschließung einer neuen Wählergruppe. Laut Bundeszentrale für politische Bildung hatten die Wählerinnen und Wähler der Grünen bei der vergangenen Bundestagswahl die höchsten Bildungsabschlüsse, sie verdienten überdurchschnittlich viel.
Viele Menschen aus marginalisierten Gruppen seien durch die Debatten der letzten Monate vor den Kopf gestoßen worden, heißt es in dem Antrag, hier wollten die Grünen Vertrauen zurückgewinnen. Sie wolle, sagt Edalatian, beim Bundestagswahlkampf über eine „funktionierende Einwanderungsgesellschaft“ sprechen. „Ich und viele andere Menschen mit Migrationshintergrund haben die Schnauze voll davon, dass es immer nur um die Gefahren von Zuwanderung und Flucht geht, und nicht um die Gesellschaft, die wir jetzt schon sind. Die erfolgreiche Einwanderungsgesellschaft“, sagt sie.