Weckruf aus Tallinn: Wie steht es um Europas Verteidigung?
„Woher nehmen wir den Gedanken, dass wir uns selbst versorgen können oder die Vorräte für unseren eigenen Bedarf haben, wenn wir sie brauchen?“, sagte Kusti Salm, ständiger Sekretär im estnischen Verteidigungsministerium, SZ Dossier. Die europäischen Verbündeten seien schließlich nicht in der Lage gewesen, die Ukraine mit ausreichend Panzern, Munition und Raketen zu versorgen.
Im Gespräch mit SZ Dossier sagte Salm in der estnischen Botschaft, wenige Meter vom Bendlerblock entfernt, er habe oft das Gefühl gehabt, dass Estland mehr tun könne. Sein Blick auf den Ist-Zustand ist alarmierend: „Europa ist nicht bereit für einen Krieg“, sagte er. „Tatsache ist, dass die Verteidigungsbereitschaft der europäischen Nationen niedriger ist als vor 2022.“
Salm ist der höchste Beamte in Estlands Verteidigungsministerium. Vergangene Woche war er zu Gesprächen in Berlin, noch in dieser Woche verlässt er seinen Posten. Wie er zuvor in einem Fernsehinterview erklärte, sei er zurückgetreten, um Kritik daran äußern zu können, dass seine Regierung nicht auf Vorschläge eingegangen sei, die estnischen Munitionsvorräte aufzustocken.
Wie er die Debatte um die deutsche Ukraine-Unterstützung wahrnimmt? „Nun, ich denke, es ist eine nüchterne Erkenntnis der Tatsache, dass wir im dreißigsten Monat des Krieges sind, dass es eine Ermüdung gibt“, sagte Salm. Es werde politisch immer komplizierter, nicht nur in Deutschland.
Aber: „Die Unterstützung wird auch im Jahr 2025 noch da sein, die Leute arbeiten fleißig daran.“ Deutschland habe dabei „großartige Arbeit“ geleistet. „Und ich denke, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass ein großer Teil dieser Arbeit nicht ausreichend gewürdigt wurde“, sagte Salm. Es sind Sätze, die seine Gesprächspartner im Kanzleramt gerne hören.
Die Ukraine hat den Krieg noch nicht gewonnen, noch immer sind 18 Prozent des Landes besetzt. Gleichzeitig verschärfen sich die Probleme in der Welt. Estland habe deshalb schnell erkannt, dass es nicht wirklich erfolgversprechend sei, nach Berlin zu fahren und den Deutschen zu sagen, was sie tun müssen, ohne in Tallinn die Hausaufgaben erledigt zu haben. In dem baltischen Land spiele auch die räumliche Nähe zu Russland eine Rolle: „In Estland werden die Militärausgaben durch eine Bedrohungswahrnehmung getrieben. In Deutschland ist das nicht so. Das ist eine Tatsache.“
Seine Ableitung daraus: Man müsse klüger und besser erklären. „Wenn wir über mehr Verteidigungsausgaben sprechen, dann könnte man im gleichen Satz die Botschaft aussenden: Okay, wir investieren mehr Geld, das schafft mehr Arbeitsplätze.“
Die Antwort auf das Problem seien also höhere Verteidigungsausgaben, mehr Hilfen für die Ukraine, eine bessere Haltung und klare Signale an Russland. Moskau habe sich auf den „historischen Weg gemacht, die Sicherheitsarchitektur in Europa“ zu verändern. „Sie werden nicht aufhören.“
Estland, das wird aus dem Gespräch deutlich, ist beschäftigt mit Moskau, der Fokus Tallinns liege „ausschließlich auf Russland“. Doch geopolitisch tun sich auf der Welt auch andere Probleme auf. „Wir haben ein starkes Vertrauen in unsere Verbündeten, die genau beobachten, was China tut“, sagte Salm. Dabei gebe es auch die ein oder andere Überschneidung: „Wir haben den Eindruck, dass die Absichten von Russland und China auf einer sehr unangenehmen Ebene übereinstimmen.“