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Tiefgang

Wie die AfD sich durch Schlaglochbekämpfung normalisieren will

Tief im Südwesten stehen Oberbürgermeister Thomas Deuschle (CDU) und seine Stadt Waghäusel vor einer Herausforderung, die sie so noch nicht kannten. Bei der Kommunalwahl am 9. Juni konnte die AfD die Zahl ihrer Sitze verdoppeln, stellt in der baden-württembergischen Gemeinde nun vier statt bisher zwei Gemeinderäte. Kein großes Problem, könnte man denken, im Rat sitzen ja 26 Politikerinnen und Politiker plus Bürgermeister Deuschle. Doch für die AfD ist das Ergebnis primär deswegen ein Erfolg, weil sie jetzt über Fraktionsstatus verfügt. Heißt, sie kann Anträge stellen, über die der Rat dann abstimmt.

Damit stellt sich in Waghäusel – und in zahlreichen anderen Kommunen in Deutschland – die Frage: Wie umgehen mit der AfD? Sie stellt sich vor allem dann, wenn die Partei fordert, die Gemeinde solle doch bitte hier einen Spielplatz bauen und dort ein Schlagloch flicken. Also Anträge stellt, die jede andere Fraktion auch stellen könnte – und würde. Zustimmen oder nicht?

Die kommunale Ebene gilt manchen als weniger politisch, mehr an der Sache orientiert, pragmatisch eben. Die Politikwissenschaftlerin Anna-Sophie Heinze von der Universität Trier sieht das anders, Heinze forscht unter anderem zur AfD und zum Umgang mit ihr und weist darauf hin, dass es in den Städten und Gemeinden keineswegs so unpolitisch zugehe, wie viele annehmen: „Es geht um Demokratieprojekte, um die Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen, um die Unterbringung von Geflüchteten.“ Fragen, bei denen es sehr wohl davon abhängt, wo im politischen Spektrum sich die jeweiligen Politikerinnen und Politiker verorten.

Die AfD mache sich jedoch genau diese vermeintlich harmlosen Themen wie das Ausbessern von Schlaglöchern zunutze, um sich zu normalisieren, sagt Heinze. Beispiele aus dem Ausland zeigten bereits, wie das funktioniere. Der Rassemblement National (RN) stelle in Frankreich schon seit Jahren zahlreiche Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. „Diese reden dort aber nicht die ganze Zeit über Migration und Integration, sondern vor allem über Kulturpolitik und Infrastrukturmaßnahmen.“ Studien zeigten, wie effektiv das ist. In Befragungen hätten Bürgerinnen und Bürger erzählt, wie schön es in ihrem Ort nun ist, seitdem der RN sich kümmert, es sei sauberer, gebe mehr Blumen und hin und wieder schöne Feste, sagt Heinze. So poliert der RN sein Image auf: „Die kommunale Ebene ist das Werkzeug, mit dem er seine Normalisierung vorantreibt.“

Vor diesem Hintergrund rät die Politikwissenschaftlerin davon ab, Anträgen der AfD zuzustimmen. Auch, wenn sie auf den ersten Blick harmlos wirken. Stattdessen empfiehlt sie den anderen Parteien, selbst bessere Anträge einzubringen. Und wenn man diejenigen der AfD ablehnt, dann mit Verweis auf „die inhaltliche und personelle Ausrichtung der Partei“, sagt Heinze. Also darauf, dass man es eben mit einer Partei zu tun habe, die in Teilen rechtsextrem ist und man daher nicht mit ihr zusammenarbeite – auch nicht um Schlaglöcher zu flicken.

Neben solchen verfahrenstechnischen Fragen geht es in den Kommunen aber auch darum, auf die gesellschaftliche Stimmung zu reagieren, die sich in den Wählerstimmen für die AfD ausdrückt. Gute Antworten werden dringend gesucht.

Rico Reichelt hat eine Idee. Er ist Bürgermeister in Boizenburg an der Elbe, einer Stadt mit knapp 11.500 Einwohnern in Mecklenburg-Vorpommern. Die AfD ist mit mehr als 18 Prozent in die Stadtvertretung eingezogen, wird dorthin aber nur eine Person entsenden können, obwohl ihr eigentlich fünf Sitze zugestanden hätten. Doch die Partei hat schlicht nicht genug Kandidaten aufgestellt, also bleiben vier Sitze leer.

Trotzdem ist das Ergebnis Ausweis einer Stimmung in der Bevölkerung, der Bürgermeister Reichelt (Die Linke) begegnen muss – und will. Reichelt und seine Stadt haben sich die Frage gestellt, wie man die Leute erreicht, die man sonst nicht mehr erreicht, die vielleicht andere Ansichten haben. Mithilfe der Daten aus dem Einwohnermeldeamt könnte die Stadt Bürgerinnen und Bürger auslosen, zu einem Bürgerforum einladen und dadurch einen Ort schaffen, „an dem man Politik erklären kann“, sagt Reichelt. Eine Art Bürgerrat im Kommunalformat, wo konkret etwa über Geothermie gesprochen werden solle oder darüber, wo neue Schulen gebaut werden sollen.

Auch das Thema „mähfreier Mai“ für mehr Artenvielfalt im Garten könne er sich vorstellen, sagt Reichelt. Viel kosten würde das nicht, sagt Reichelt, aber es böte die Gelegenheit, Kompromisse zu finden und Dissens auszuhalten. Tim Frehler

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