Macron wettet mit dem höchsten Einsatz
Emmanuel Macron hat das Risiko in der Politik noch nie gescheut. Aber seine Entscheidung, das Parlament aufzulösen und eine Neuwahl herbeizuführen, ist ein unerhörtes Experiment – umso mehr, da er es aus einer Position der Schwäche heraus unternimmt. Auf dem Spiel stehen sein Ruf und das Erbe seiner Amtszeit, Frankreichs Einfluss in Europa und der Kurs der EU.
Kann sein, dass er damit erneut die Franzosen gegen die derzeit weitaus größte Partei vereint, den Rassemblement National, der die Europawahl in Frankreich mit großem Abstand gewann. Kann aber auch sein, dass er eine Regierung unter einem RN-Premierminister – Marine Le Pen selbst oder ihr Wunderknabe und Parteichef Jordan Bardella – in Kauf nimmt und die nächsten Jahre in einer cohabitation mit den Rechten regieren wird.
Die Hoffnung im Elysée, erste Stufe: Im Ich-oder-die-Vergleich würden sich ausreichend Wähler für Macrons Kurs – für ein „souveränes“ Europa, das in der Lage ist, sich und die Ukraine zu verteidigen, das seinen Industriestandort schützt und bewahrt – gewinnen lassen. Bei der Europawahl kam es nicht darauf an, so die bei allem EU-Enthusiasmus latent arrogante Haltung: Wenn ihre Interessen aber direkt in Frage stünden, würden die Franzosen sich schon darauf besinnen, wer und was gut für sie sei.
Käme es so, Macron hätte sich in wenigen Wochen vom Verlierer zum Drachenbezwinger gewandelt. Dass Marine Le Pens Partei die Europawahl mit doppelt so vielen Stimmen gewann wie Macrons Liste, muss nicht schon ein Ausgang der Parlamentswahl am 30. Juni (und 7. Juli) vorherbestimmen. Die Ankündigung kam überraschend für alle, den RN am meisten. Der Reflex, zusammenzustehen gegen die Rechten hat immerhin jahrzehntelang funktioniert, ohne allerdings die Rechten zu schwächen, im Gegenteil.
Was also, wenn? „Sollte der RN die Mehrheit gewinnen oder eine Regierungskoalition bilden, betritt Frankreich Neuland“, sagte Célia Belin, die das Pariser Büro European Council on Foreign Relations (ECFR) leitet. Die Pläne der Partei für Europa „sind nach wie vor unausgereift und zuweilen widersprüchlich“, sagte sie. „Frankreichs Stimme würde eine Zeit lang in den Hintergrund treten.“
Das sind zurückhaltende Worte für dies: Im Hôtel Matignon einziehen zu dürfen, wäre die Krönung von Le Pens Strategie der Normalisierung oder „Entteufelung“ – und die größte Verwerfung in der französischen Politik der Nachkriegsgeschichte.
Die cohabitation ist nichts Erstrebenswertes, auch nicht für den Premier, der in der konstitutionell schwächeren Rolle ist als der Präsident. Es wären zähe Jahre. Der Gedanke in Macrons Umfeld ist aber genau der, heißt es in Paris: In den drei Jahren bis zur nächsten Präsidentschaftswahl würde eine mögliche rechte Regierung sich an den Mühen des Alltagsgeschäfts so abplagen, dass eine Öffentlichkeit bis dahin sähe, was sie angestellt hat. Macrons Nachfolger, der bis dahin allerdings noch aufgebaut werden müsste, könnte die Früchte ernten. Der Präsident selbst darf 2027 nicht noch einmal antreten. Ein Plan mit sehr vielen Unbekannten.
Kurzfristig hofft das Lager um Ursula von der Leyen, dass Macron daheim so beschäftigt und europäisch so geschwächt ist, dass er die Kommissionspräsidentin für eine zweite Amtszeit durchwinkt. „Macron kann jetzt sicher keine Spielchen spielen“, sagte ein führender Christdemokrat.
Zu einem kurzen proeuropäischen Jetzt-erst-recht-Wahlkampf Macrons würde das passen: Am 28. Juni sollen, so der Zeitplan, die Staats- und Regierungschefs der EU ihre Kandidaten nominieren; zwei Tage später wählt dann Frankreich, und wieder könnte die Personalie von der Leyen Einfluss nehmen: Den Rechtsnationalen nähme sie ein Wahlkampfthema. Florian Eder