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„Wir können nicht immer die reine Lehre abbilden“

Die Bundesregierung strafft ihre Bemühungen, Nachhaltigkeit zum Leitmotiv der Politik zu machen und ihre soziale Dimension herauszustreichen. Sie stellt heute eine neue Strategie vor, und die soll schwerer zu ignorieren sein als ihre Vorgängerin. SZ Dossier lag die Nachhaltigkeitsstrategie vorab vor.

Ihre Veröffentlichung folgt einem ernüchternden Zwischenstand bei den weltweiten Nachhaltigkeitszielen, der Agenda 2030 – nicht nur, aber auch in Deutschland. „Wir haben die Halbzeitbilanz hinter uns, mit bestenfalls durchwachsenen Ergebnissen“, sagte Sarah Ryglewski SZ Dossier im Interview. „Klar ist: Wir müssen mehr Tempo aufnehmen.“ Die Staatsministerin im Bundeskanzleramt, im Hauptberuf Bund-Länder-Beauftragte, hat die ressortübergreifende Strategie koordiniert.

Sie ist mit rund 150 Seiten nicht einmal halb so lang wie die geltende, zuletzt 2021 angepasste, Strategie. Sie soll überhaupt weniger Worte machen. „Die Nachhaltigkeitsstrategie wird deutlich konkreter und fokussierter, orientiert sich stärker am Regierungshandeln“, sagte Ryglewski. Das heißt auch, etwa die soziale Dimension, „die bisher nicht so stark in den Blick genommen worden ist“, von vornherein zu berücksichtigen, damit Prioritäten in der Debatte nicht so leicht gegeneinander ausgespielt werden können.

Die Idee ist, dass ein solches Vorgehen dem Muster vorbeugt, Nachhaltigkeit am Sonntag zu preisen und am Montag über Politikbereiche mit mehr Wahlkampf-Wumms zu vergessen. „Sicherheit und stabile Wirtschaft gibt es nur, wenn gesellschaftlich, sozial und auf der Ebene von Bildung und menschlicher Befähigungen die Dinge gut ineinandergreifen“, sagte Ryglewski gestern im Gespräch. „Alles andere ist ein Trugschluss.“

Für ein „gerechtes Deutschland, in dem niemand zurückgelassen wird“, heißt entsprechend ein Abschnitt, der nationale Herausforderungen beschreibt. „Teilhabe, Zusammenhalt und Gerechtigkeit müssen gemeinsam als soziale Dimension der Nachhaltigkeit verwirklicht werden“, fordert der Text. Neue Indikatoren sollen helfen, nachzuhalten: „Wir haben diese Dimension auch über die Indikatoren stärker gemacht und Themen aufgenommen wie Bildungsbeteiligung, Tarifbindung, Gleichstellung und Verbraucherverschuldung“, sagte Ryglewski, eine Bremer SPD-Abgeordnete.

Eine Strategie ist nur so schlagkräftig, wie ihre Governance es zulässt. In vielen Punkten „sind wir schon ganz gut“, sagte Ryglewski, nannte Wirtschafts- und Außenwirtschaftspolitik. „Man kann es aber noch mal deutlich systematischer angehen. Wir haben angefangen, die Nachhaltigkeitsprüfung im Gesetzgebungsprozess zu implementieren, auch ex ante, um Zielkonflikte und Wertungswidersprüche aufzudecken. Wir wollen mehr Verbindlichkeit ins System bringen.“

Unbestritten sind Spannungen zwischen Umwelt- und Klimapolitik, Vögeln und Windrädern, Wachstum und Arbeitsbedingungen, Bund und Kommunen, innerdeutsch, europäisch, weltweit: Ob scheinbar oder tatsächlich, Ziele konkurrieren miteinander. Wenn das im Gesetzgebungsprozess nicht aufzulösen ist, gehört es anderswo gemacht.

Ein Schritt: mehr Kommunikation. Sieben Transformationsteams, Arbeitsgruppen zu Themen von Kreislaufwirtschaft übers Bauen zur Schadstoffreduktion, seien andauernd im Austausch, so sieht das neue Organigramm es vor. „Es ist nicht mehr so wie in der Vergangenheit, wo interministerielle Arbeitsgruppen ab und zu mal zusammenkommen“, sagte Ryglewski.

Ein dauernder Streitpunkt, auch innerhalb der Koalition: Wer wie viel leisten muss. „Über Monitoring und Indikatoren können wir natürlich auch gut zuordnen, welche Bereiche gefordert sind“, sagte sie. Könnten, eher, Konjunktiv: „Es ist die Stärke der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, dass man nicht immer mit dem Finger auf andere zeigt, sondern dass das gesamte Regierungshandeln gefordert ist.“

In den Haushaltsverhandlungen zeigt sich die Bedeutung eines Themas. „Nachhaltigkeit ist Querschnittsthema, es gibt ja nicht den einen Nachhaltigkeitshaushalt“, sagte Ryglewski, zuversichtlich, dass die Sicherung nachhaltigen Wohlstands „ganz klar Prioritäten“ seien, für die auch Mittel zur Verfügung stünden. „Dass wir an der ein oder anderen haushaltsrelevanten Stelle auch Diskussionen und Auseinandersetzungen haben werden, ist so, aber gehört zum politischen Alltag dazu. Als Bundesregierung haben wir im Koalitionsvertrag klargestellt, dass Nachhaltigkeit Richtschnur unseres Handelns ist. Daran werden wir uns messen lassen.“

Die nun erscheinende „Dialogfassung“ der Strategie können Interessierte bis Ende Juli kommentieren; Vorschläge sollen im Herbst eingearbeitet werden, dann steht die Verabschiedung und Veröffentlichung an.

„Ich war ja nun schon länger im Dialog mit vielen engagierten Stakeholdern aus Zivilgesellschaft und Verbänden, Vertreterinnen von NGOs, der Wirtschaft und der Wissenschaft“, sagte Ryglewski. Sie kennt wahrscheinlich alle Anmerkungen und Einwände, schon bevor Interessengruppen sie formulieren können – oder die Parteien der Ampel. „Sicherlich wird es auch Kritik geben, weil oftmals die Perspektiven sehr unterschiedlich sind“, sagte sie. „Wir können in unserer Strategie natürlich nicht immer die reine Lehre abbilden.“

Dem Thema Nachhaltigkeitspolitik widmen wir bald ein eigenes, regelmäßiges Dossier. Sie, unsere Leserinnen und Leser, erfahren es als Erste, wenn es losgeht.