Wie Fridays for Future an alte Erfolge anknüpfen will
Freitagmittag in einem Hinterhofgebäude in Berlin-Mitte: Vier junge Frauen sitzen an einem Tisch. Vor ihnen das Banner mit der Botschaft, um die es gleich gehen wird: #ReclaimTiktok steht darauf – Tiktok zurückgewinnen. Fridays for Future will skizzieren, mit welchem Plan sie in den Europawahlkampf ziehen werden, um Wähler für ihre Anliegen zu sensibilisieren. Ein guter Plan tut Not, die großen Klimademonstrationen sind inzwischen Jahre her. Die Frauen auf dem Podium, das sind die Klimaaktivistinnen Helena Marschall, Annika Kruse, Luisa Neubauer und Magdalena Hess. Zentraler Baustein der Kampagne: die Plattform Tiktok.
Erstmals dürfen bei der Europawahl in Deutschland auch 16-Jährige ihre Stimme abgeben. Eine Altersgruppe, die besonders häufig Tiktok nutzt. Und laut der Studie „Jugend in Deutschland“ rechter wählt als noch vor wenigen Jahren. In der Befragung gaben dieses Jahr 22 Prozent der 14- bis 29-Jährigen an, die AfD zu wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. 2023 waren es noch zwölf Prozent, 2022 neun.
Kaum vorstellbar, dass die Fridays den politischen Druck erzeugen können, den sie vor fünf Jahren aufbauen konnten. Vor der Europawahl 2019 gelang es ihnen, das Thema Klima an die Spitze der politischen Tagesordnung zu setzen. Jugendliche schwänzten die Schule und gingen stattdessen demonstrieren. „Parteien mussten sich zum ersten Mal mit der Klimakrise beschäftigen“, sagt Luisa Neubauer. Außerdem seien „so viele junge Menschen wie noch nie wählen gegangen“. Erfolge, die die Fridays weitestgehend „offline“ eingefahren hätten, sagt Neubauer. Die kommende Wahl hingegen werde „massiv auf TikTok entschieden“. Dort hat allerdings die AfD die Vorherrschaft. „Sieben der zehn größten Politikaccounts in Deutschland auf Tiktok gehören der AfD“, sagt Magdalena Hess.
Daher: Reclaim Tiktok. Wie? Ein Rätsel, das derzeit Politikberater bis hinein ins Kanzleramt beschäftigt. Die Fridays versuchen, nachzuarbeiten: Neubauer erzählt, sie hätten sich gefragt, wie man Viralität organisieren könne – wie es also gelingt, Inhalte massenhaft in sozialen Medien zu verbreiten. Hierbei unterscheidet sich Tiktok von anderen Plattformen. Die Zahl der Follower spielt dort nur eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist, welche Inhalte den Nutzerinnen und Nutzern gefallen, oder andere starke Reaktionen bei ihnen auslösen. Der Algorithmus merkt sich diese Vorlieben, wer weiterwischt, bekommt ähnliche Videos angezeigt – und muss dafür dem Account nicht folgen.
„Wir gehen sehr auf Masse“, sagt Neubauer, sie spricht von „hunderten dezentraler Accounts“, die man mobilisieren wolle. Ihr Plan sieht vor, möglichst viele Nutzerinnen und Nutzer anzustacheln, selbst eigene – natürlich klimabezogene – Videos mit dem Hashtag Reclaim Tiktok zu posten, und dadurch eine so große Menge zu produzieren, dass ihnen nur schwer zu entkommen ist. Der Flut rechter und rechter Inhalte soll also eine eigene Welle entgegengesetzt werden.
AfD-Politiker spielen in ihren Videos mit starken Emotionen, wie Angst und Wut. Wie wollen die Klimaaktivisten dem etwas entgegensetzen? „Unserer Erfahrung nach Wünschen sich Menschen Informationen“, sagt Helena Marschall.
Neu ist das, was die Fridays jetzt machen, nicht. Der Erfolg der AfD auf Tiktok basiert in Teilen auch darauf, dass ihre Posts von ihrer sehr aktiven Community geliked und geteilt werden und sich auf diesem Weg massenhaft verbreiten. Die Klimaaktivisten haben sich also etwas bei den extremen Rechten abgeschaut. Und sie haben sich bei der Entwicklung ihrer Strategie fremde Hilfe geholt. Neubauer sagt, sie hätten mit diversen Agenturen gesprochen, internationale Vernetzungstreffen besucht und sich mit Vertretern aus der US-Politik ausgetauscht, etwa „Gen-Z for Change“, einem Zusammenschluss hunderter junger Influencer, die sich progressiven Inhalten verschrieben haben. Gegründet wurde die Initiative 2020 unter dem Namen „Tiktok for Biden“. All das habe man dann „erstmals aktivistisch übersetzt, ohne dass es rechtsradikal ist“, sagt Neubauer.
Der Ansatz der Fridays ist beliebt. Politische Jugendorganisationen fragten immer wieder, ob die Aktivistinnen und Aktivisten ihnen nicht mit Rat helfen könnten. Tim Frehler