Erinnern an die Shoah, mitten im Nahostkonflikt
Yona Roseman wollte unbedingt noch etwas loswerden. Sie hat die Außenministerin abgefangen, nachdem Annalena Baerbock eine weiße Rose am Mahnmal im Konzentrationslager Sachsenhausen abgelegt hat. „Auch Menschen, deren Vorfahren schrecklichste Verbrechen widerfahren sind, sind in der Lage, schreckliche Dinge zu tun“, habe sie Baerbock auf Englisch gesagt, erzählt Roseman später. Deutschland, als Partner Israels, müsse sich dafür einsetzen, dass Israel sich besser verhalte.
Eigentlich geht es an diesem Dienstagvormittag im KZ Sachsenhausen um Jugendarbeit, darum, wie Jugendliche das Erinnern an die Shoah mitgestalten, wie sie weiter erinnern können, weil die Zeitzeugen weniger werden. Experten warnen davor, dass das Wissen über den Holocaust und die Singularität der Nazi-Verbrechen abnehme, auch in Deutschland. In Sachsenhausen wurden 200.000 Menschen gefangen gehalten, 40.000 bis 50.000 sind gestorben. Ermordet, verhungert. Wie viele Menschen wissen das?
Roseman gehört zu einem deutsch-israelischen Jugendprojekt, das Überlebende interviewt hat. Sie ist für diesen Termin nach Sachsenhausen gereist. Die Krisen auf der Welt aber sickern in das Erinnern ein, die Gegenwart prägt den Blick auf die Geschichte.
Der 7. Oktober, als die Hamas Israel überfiel, über 1200 Menschen ermordete. Der Krieg, der danach kam. Die tausenden zivilen Opfer im Gaza-Streifen, viele davon Kinder, die Berichte von Massengräbern. „Seit 200 Tagen sind über 130 Menschen, Frauen, Männer und nach wie vor Kinder, in den Händen der Hamas-Terroristen. Seit 200 Tagen steht ihre Welt still, weil für sie, und auch für ihre Angehörigen, jeder Tag der 7. Oktober ist“, sagt Baerbock.
Kurz zuvor saß sie mit Jugendlichen eines anderen Projekts, das mit Bundesmitteln gefördert wird, am Tisch. Einer, selbst vor wenigen Jahren nach Deutschland geflohen, erzählt, er habe durch das Projekt die Möglichkeit gehabt, mit Jüdinnen und Juden in Kontakt zu kommen. Sie hätten erzählt, dass sie noch immer Angst hätten, in Deutschland eine Kippa zu tragen. „Man sieht ja, was in Israel passiert ist“, sagt er. Baerbock nickt, ihr werde im Zuge des Nahostkonflikts immer klarer, wie vielen Menschen auf der Welt nicht bewusst sei, was genau während der Shoah passierte.
In Deutschland beschäftigen sich Schülerinnen und Schüler laut Lehrplan erst ab der 10. Klasse mit dem Holocaust. Roseman erzählt, in Israel sei die Shoah bereits im Kindergarten Thema, klar, sagt Baerbock später, es stecke ja in allen Familien. Ein anderer wendet ein, es seien auch in Deutschland beinahe alle Familien betroffen, doch es werde – noch immer – darüber geschwiegen. Die Generation Z interessiert sich laut Studien sehr für die Shoah, „Jugend erinnert“ schafft dafür einen Raum.
Am Tisch erzählt eine Sozialarbeiterin von einem dritten Projekt, dem Lidice-Haus in Bremen. Lidice ist ein Ort in Tschechien, der von den Nationalsozialisten 1942 zerstört wurde, alle Männer und beinahe alle Kinder des Ortes wurden ermordet und die Frauen in Konzentrationslager gebracht. Lidice wurde später 300 Meter weiter wiederaufgebaut, am Ort des Verbrechens erinnert ein Bronzedenkmal der Kinder aus Lidice an das Massaker.
Schülerinnen und Schüler aus Bremen reisen regelmäßig nach Lidice, vielen Jugendlichen gehe das sehr nah, erzählt eine Sozialarbeiterin. Es sei „natürlich emotional“, sagt Baerbock. Sie schaut ein Bild des Mahnmals an. In anderen Ländern, zum Beispiel in Israel, sei eingepreist, dass die Emotionen bei Terminen wie diesen mitkämen.