Wenn der Protest aus der Mitte kommt
Heute sind in Berlin unter anderem folgende Demonstrationen angemeldet: Forderung einer Regierungserklärung von Olaf Scholz zur Klimapolitik; Hungerstreik vor dem Justizministerium; eine Mahnwache freier Bauern, eine andere gegen Waffenlieferungen an Israel, für einen Spielplatzerhalt in der Ossietzkystraße; eine, die zu Pessach an die Geiseln erinnert, die noch immer in der Gefangenschaft der Hamas sind. Insgesamt sind 19 Veranstaltungen angemeldet.
Der Protest in Deutschland im Jahr 2024 ist laut und oft unnachgiebig, er wirkt beinahe so zerklüftet wie die Gesellschaft. Traktoren, die Autobahnzufahrten blockieren, brennende Misthaufen vor Veranstaltungsorten der Grünen. In solchen Zeiten kann es helfen, sich zurückzubesinnen, darauf, wie es begann und was es ausmachen kann, wenn Protest aus der Mitte der Gesellschaft kommt.
Was viele vergessen haben – oder noch nie wussten: Der zivile Ungehorsam der Bundesrepublik wurde vor beinahe fünfzig Jahren in Wyhl geboren, im Badischen, am Rhein, an der Grenze zu Frankreich. Die Bürgerinnen und Bürger von Whyl verhinderten – erfolgreich! – den Bau eines Atomkraftwerks. Max Ferstl und Roman Deininger waren dort, sie haben über das, was der Protest von damals die Gesellschaft heute lehren kann, mit Demo-Veteranen gesprochen.
Hans Filbinger war 1975 Ministerpräsident von Baden-Württemberg, er sagte, „ohne das Kernkraftwerk Wyhl werden zum Ende des Jahrzehnts in Baden-Württemberg die ersten Lichter ausgehen“. Die Zuspitzung als Totschlagargument politischer Rhetorik war schon damals en vogue.
Am 20. Februar 1975, so schreiben es die Kollegen, wurde der besetzte Bauplatz von Polizisten geräumt, es entstanden Bilder, Wasserwerfer gegen Winzerfrauen, das konnte nicht richtig sein. Die öffentliche Stimmung drehte sich. Wenige Tage später habe ein älterer Demonstrant zu einem Polizisten gesagt: „Du könntest mein Bub sein, du schlägst mich nicht.“ So sei es dann auch gewesen. Bernd Nössler, damals einer der Organisatoren, sagte, einer der Gründe für den Erfolg sei gewesen, dass sie den Staat nicht zerstören, keine Regierung stürzen wollten. „Wir hatten ein sachliches Ziel.“
Man könnte einwenden, dass die Klimabewegung ebenfalls ein sachliches Ziel hätte. Doch noch etwas sei entscheidend gewesen, sagte die Mitstreiterin Carola Bury: die politische Unabhängigkeit. Ständig hätten sie sich gegen die Unterwanderung durch radikale Kräfte wehren müssen.
Nachvollziehen können sie weder die Bauernproteste gegen die Streichung der Agrardieselsubventionen noch den Kampf der „Letzten Generation“, die Bernd-Nössler-Prüfung nach Maß und Mitte besteht beides eher nicht.
Maß und Mitte gewahrt haben die Proteste gegen Rechtsextremismus und die AfD. Der Erfolg der Anti-AKW-Bewegung, die in Whyl begann, ist nicht zu leugnen. Über Jahrzehnte prägte sie politische Entscheidungen und den Diskurs in Deutschland. Würde in fünfzig Jahren ähnlich über die Proteste gegen Rechtsextremismus und für Demokratie berichtet, wie heute über Whyl, es wäre viel gewonnen.