Der neue Krieg
Desinformation und Deepfakes sind in Wahlkampfjahren besonders gefährlich, und dieses Jahr ist Superwahljahr: die Europawahlen im Juni, die Landtagswahlen im September, die US-Präsidentschaftswahlen im November. Indien wählt ein neues Parlament, Indonesien hat Präsidentschaftswahlen. An diesem Montag lädt der Verfassungsschutz zum Symposium, um über Auswirkungen internationaler Krisen auf die Sicherheitslage in Deutschland zu diskutieren. Der Inlandsgeheimdienst beschäftigt sich zunehmend mit ausländischen Akteuren – weil sie im Inland durch Desinformation versuchen, die Bundesrepublik zu destabilisieren.
Die berüchtigte „Doppelgänger“-Kampagne ist das wohl berühmteste Beispiel. Im Januar 2024 wurden Recherchen des Auswärtigen Amts bekannt, die Beamten dort identifizierten innerhalb von rund vier Wochen auf der Plattform „X“ 50.000 gefälschte Nutzerkonten, die nach Informationen des Spiegel insgesamt mehr als eine Million deutschsprachiger Tweets absetzten. Ziel der Kampagne ist es offenbar, die Solidarität mit der ukrainischen Zivilbevölkerung in Deutschland zu zersetzen.
Laut Recherchen der Non-Profit-Organisation „AI Forensics“ werden auf Facebook weniger als 5 Prozent der politischen Posts, die nicht als solche gekennzeichnet sind, moderiert. Innerhalb der letzten sechs Monate habe die noch immer aktive „Doppelgänger“-Kampagne in Frankreich und Deutschland mehr als 38 Millionen Nutzerkonten erreicht. Das sind ungekannte Ausmaße. Experte Peter Pomerantsev, britischer Journalist und Autor, beobachtet, dass Russland sich mit China und Iran für Cyberoperationen zusammentue.
Was tut die Bundesregierung? Noch vor wenigen Jahren galt Desinformation als Nischenthema, inzwischen aber sieht der Regierungsapparat sie als echtes Querschnittsthema, das alle angeht. Mit der AG Hybrid wurde eine gemeinsame Arbeitsgruppe von Auswärtigem Amt, Kanzleramt, Bundespresseamt, Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst geschaffen, die alle zwei Wochen unter der Leitung des Bundesinnenministeriums zusammenkommt und sich über hybride Bedrohungen austauscht, berichtete Selina Bettendorf im Dossier Digitalwende (hier testen.)
Da die Gruppe recht groß ist, gibt es für die schnellere Kommunikation noch die Expertengruppe „Medien- und Informationsarbeit zu Desinformation in hybriden Bedrohungslagen“, bekannt als „EG Desinformation“ unter Leitung des Auswärtiges Amts und des Bundespresseamts. Das Auswärtige Amt wertet öffentliche Informationen aus, der Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst liefern nicht-öffentliche Informationen zu.
Aktuell erarbeitet das BMI einen „Gemeinsamen Aktionsplan von Bund und Ländern gegen Desinformation und für eine wehrhafte Demokratie“. Laut Informationen von SZ Dossier nicht dabei: die Nachrichtendienste. Dort gibt es Menschen, die diese Entscheidung skeptisch sehen. Ein hochrangiger Beamter sagte SZ Dossier, er sehe die Detektion von Desinformation nicht als ministerielle Aufgabe. Die Dienste würden weiterhin staatliche Desinformationskampagnen aufspüren. Das Innenministerium sieht das offenbar anders.
Für die EU-Wahl, bei der erstmals auch 16-Jährige wählen dürfen, kommt ein solcher Aktionsplan zu spät. Die Grünen, oft Zielscheibe von Desinformation, versuchen selbst dagegen vorzugehen. „Neben einem umfassenden Monitoring der relevanten sozialen Medien stellen wir unseren Haupt- und Ehrenamtlichen Handlungsempfehlungen und Strategien zum Umgang mit Hass und Hetze zur Verfügung“, sagte die Politische Geschäftsführerin Emily Büning SZ Dossier. Es gibt Workshops zum Thema Desinformation und digitale Bedrohungen, zusätzlich die „Grüne Netzfeuerwehr“, die in Kommentaren laut Büning „aktiv für einen demokratischen, respektvollen Diskurs eintreten und gezielt Desinformation kontern“.
Ein großes Problem benannte Nathalie Rücker, Senior Managerin beim Thinktank „Institute for Strategic Dialogue“, vor Kurzem bei einem Event der Grünen-Fraktion. Nur etwas mehr als die Hälfte der Deutschen traue sich zu, unseriöse Nachrichten überhaupt zu erkennen. „Wir brauchen einen systematischen Ansatz, der klare Zuständigkeiten definiert und eine gesamtgesellschaftliche Resilienz aufbaut“, sagte sie.