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Vom gesellschaftlichen Frieden und Frauenrechten

Die Expertenkommission zu Reproduktionsmedizin empfiehlt, Abtreibungen zu legalisieren. Heute um 9 Uhr stellt sie ihren Bericht vor. Das Gremium findet, der Schwangerschaftsabbruch sei „in der Frühphase der Schwangerschaft – anders als bislang – rechtmäßig zu stellen“. Die derzeitige Regelung, die zu einer gesellschaftlichen Befriedung geführt hat, aber laut der Schwangerschaftsabbrüche nach wie vor rechtswidrig sind, entspreche nicht der Verfassung. Es bedürfe einer Regelung, die die „Rechtmäßigkeit und Straflosigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen in der Frühphase sicherstellt“. Zuerst berichtete der Spiegel darüber, SZ Dossier liegt der Bericht vor.

Ein Kinderwunsch ist vielschichtig und ambivalent. Die Anwesenheit. Aber auch die Abwesenheit. Kaum etwas fühlt sich privater an, als die Entscheidung ein Kind zu bekommen oder keines zu wollen. Doch diese Entscheidung ist politisch. In Geschichten über Abtreibungen sind die Namen der Frauen oft anonymisiert, fotografiert werden sie von hinten, aus dem Fenster schauend, damit man nicht weiß, wer abgetrieben hat. Im Kommissionsbericht heißt es, der Gesetzgeber solle der Stigmatisierung entgegentreten.

Bislang sind Abtreibungen akzeptiert, so lange nicht darüber gesprochen wird, und so getan wird, als fänden sie nicht statt. 54 Prozent der Deutschen sind aber gegen eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, das zeigte eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen im vergangenen Sommer. Die Gesellschaft kann mit der Regelung leben, so wie sie ist.

Die FDP auch. Warum schlafende Hunde wecken in einem Land, in dem sonst derzeit ziemlich laut gekläfft wird? Grüne und SPD sehen es anders. Sie finden, es entspricht nicht dem Selbstbestimmungsrecht der Frau, wenn Schwangerschaftsabbrüche im Strafgesetzbuch geregelt sind. Geht es nach vielen Frauen bei SPD und Grünen wird aus dem Bericht, dessen Deutlichkeit auch sie überrascht hat, eine Gesetzesänderung erwachsen.

Es bleibt ein Dilemma. Die Frage ist: Will man den schwierig gefundenen Kompromiss aufkündigen, um den gesellschaftlichen Frieden zu wahren – oder Frauenrechte stärken?

„Ein Lichtblick“ nannte Juso-Chef Philipp Türmer das Papier. Ihn treibe vor allem die schlechte Versorgung von ungewollt Schwangeren um, er forderte eine „flächendeckende und wohnortnahe Versorgung“.

Schwangerschaftsabbrüche müssten durch die Krankenkassen finanziert werden, sagte Türmer SZ Dossier. Dass die Kosten bisher oft selbst getragen werden müssen, weiß kaum jemand, der nicht betroffen ist oder sich beruflich mit dem Thema beschäftigt.

Doch auch Sozialdemokraten fürchten, dass das Thema zum Kulturkampf gebraucht werden könnte. Katja Mast, die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD, sagte beim parlamentarischen Frühstück in dieser Woche, all diejenigen, die die Debatte in den Neunzigerjahren miterlebt hätten, wüssten, wie hart sie damals geführt worden sei.

Die Union hat eine feste Meinung. „Grundüberflüssig“ sei die Diskussion laut dem Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer Thorsten Frei. Setzt die Ampel die Empfehlungen der Kommission um, werde man klagen, teilte die Union mit. Ähnlich wie in den USA würde der Streit damit, wieder einmal, auf die juristische Ebene gehoben, weil er sich politisch nicht lösen lässt.

Die Christsozialen wurden noch deutlicher. „Unser Maßstab ist nicht die Lockerung, sondern der Lebensschutz mit seinen sehr guten Hilfs- und Beratungsangeboten für Frauen in Not“, sagte der rechtspolitische Sprecher Volker Ullrich. „Grundsätzlich legale Schwangerschaftsabbrüche kann es nicht geben – jedes Lebewesen hat seine Größe und ein Recht auf Leben“, sagte er.

Denkt man den Satz konsequent zu Ende, könnte auch ein schärferes Abtreibungsverbot drohen. Wie in einigen US-Bundesstaaten, etwa in Arizona. Frauen dürfen dort zum Beispiel erst abtreiben, wenn Lebensgefahr für sie besteht – das bedeutet auch, dass Ärztinnen und Ärzte nicht präventiv abtreiben dürfen, also warten müssen, bis der lebensbedrohliche Zustand eingetreten ist.

Einen Vorgeschmack auf die Debatten hierzulande liefert der Gesetzentwurf der Ampel zu den sogenannten Gehsteigbelästigungen. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt warnte vor einer Einschränkung der Meinungsfreiheit, wenn Abtreibungsgegner nicht mehr vor Beratungsstellen demonstrieren dürften. Während der Bundestagsdebatte kritisierte die Grünen-Abgeordnete Denise Loop: „Bis heute dürfen Frauen nicht alleine entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austragen oder nicht.“ Der CDU-MdB Hubert Hüppe rief dazwischen: „Eine Schwangerschaft austragen oder ein Kind austragen?“

Vom gesellschaftlichen Frieden und Frauenrechten (Tiefgang) | SZ Dossier