„Beide Länder sind im Moment sehr mit sich selbst beschäftigt“, beschreibt Stephan Steinlein die Lage in Frankreich und Deutschland. Wie die deutsch-französischen Beziehungen darunter leiden, aber trotz allem weitergehen, erzählt der deutsche Botschafter in Frankreich bei einem winterlichen Spaziergang rund um seine Residenz, das Palais Beauharnais am Pariser Seine-Ufer. Dabei wird er auch warnen, dass die Erwartungen an eine neue Bundesregierung groß, vielleicht zu groß sind.
Dass das Verhältnis von Bundeskanzler Olaf Scholz zum französischen Präsidenten Emmanuel Macron besser sein könnte, ist bekannt, aber immerhin hat Scholz Macron gerade beim EU-Gipfel vertreten. Doch die ständigen Regierungsumbildungen in Paris – gerade hat François Bayrou als schon vierter Ministerpräsident des Jahres 2024 sein Kabinett zusammengestellt – machen die deutsch-französische Zusammenarbeit richtig schwierig.
Jeder neue Minister ist mindestens ein paar Wochen damit beschäftigt, sich einzuarbeiten. „Das deutsch-französische Verhältnis lebt davon, dass man sich kennt und Vertrauen aufbaut“, sagt Steinlein, „dann kann man sich im Fall von Konflikten entgegenkommen und Kompromisse finden und muss sich nicht öffentlich in Brüssel streiten.“ Das aber ist schwierig, wenn ein Minister schon weg ist, bevor der Vertrauensaufbau wirklich begonnen hat.
Beim Blick in den Garten der Residenz gibt Steinlein ein Beispiel aus der Bildungspolitik: Die Botschaft hatte auf der Grundlage gemeinsamer Ideen der deutschen Kultusministerkonferenz und des französischen Bildungsministeriums Vorschläge zur Förderung des Deutschunterrichts erarbeitet. Dieses Konzept sollte dem damaligen Bildungsminister Gabriel Attal präsentiert werden, aber kurz vorher wurde Attal Ministerpräsident. Die Chance war erstmal weg. Dabei wäre das Konzept wichtig, weil die Zahl der französischen Schüler, die Deutsch lernen, kontinuierlich stark sinkt.
Da ist es ein Glück, wenn ein Minister wie Sébastien Lecornu mehreren Regierungen nacheinander angehört. Der Verteidigungsminister hatte von Anfang an ein enges Verhältnis zu seinem deutschen Pendant Boris Pistorius. Beide waren sich einig, die großen Rüstungsprojekte für einen gemeinsamen Kampfpanzer (MGCS) und Kampfflugzeuge (FCAS) gemeinsam voranzubringen und zusammen zu beaufsichtigen.
Ein Vorteil für die schnelle enge Zusammenarbeit von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und dem gerade ebenfalls im Amt bestätigten Außenminister Jean-Noël Barrot war, dass Barrot zuvor als Europaminister tätig war.
Bei den häufigen Ministerwechseln gewinnen die Apparate an Bedeutung. „Überall gibt es Leute, denen das deutsch-französische Verhältnis wichtig ist“, sagt der Botschafter. In zehn Ministerien auf beiden Seiten arbeitet auf Zeit jeweils ein Beamter aus dem anderen Land.
Wir kommen an der Nationalversammlung vorbei. Deren vorgezogene Neuwahl im Juni führte dazu, dass die beiden Sitzungen der deutsch-französischen parlamentarischen Versammlung in diesem Jahr ausgefallen sind. Noch immer haben sich die französischen Abgeordneten nicht wieder voll sortiert, da wird der Deutsche Bundestag vorzeitig aufgelöst, der nächste wird erst Ende März seine Arbeit aufnehmen.
An Bedeutung gewonnen als stabilisierendes Element in Frankreich hat der Senat, der unter seinem Präsidenten Gérard Larcher enge Kontakte zum Bundesrat entwickelt hat. Larcher organisierte auch, dass die damalige Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig für Deutschland in Paris einen Kranz bei der Gedenkfeier an das Kriegsende am 8. Mai 1945 niederlegen durfte – als erste Deutsche dort in einer aktiven Rolle.
Steinlein postet auf Social Media häufig Bilder von Friedhöfen, weil Vergangenheit und Gedenktage in Frankreich noch wichtiger sind als in Deutschland. Dass etwa der deutsche Präsident Frank-Walter Steinmeier an der offiziellen jährlichen Gedenkfeier an das Nazi-Massaker in Oradour-sur-Glan teilnehmen durfte, ist von hoher Symbolik. Steinlein hat über 20 Jahre eng mit Steinmeier zusammengearbeitet, zuletzt als Staatssekretär im Präsidialamt.
Als er im August 2023 Botschafter in Paris wurde, war der Job nicht ganz neu für ihn: 1990 war er in den Wochen vor der Wiedervereinigung als junger Diplomat der letzte Botschafter der DDR in Paris – und damit der einzige Diplomat der Nachkriegszeit, der Botschafter für zwei deutsche Staaten war.
Wir gehen entlang der Seine mit Blick auf das Grand Palais und andere Prachtbauten. Trotz seiner politischen Krise und schwierigen Haushaltssituation bleibe Frankreich ein wirtschaftlich starkes und diversifiziertes Land, sagt Steinlein. Und wie schauen die Franzosen nach Berlin? „Die Reaktion auf den anstehenden Regierungswechsel ist gelassen.“ Seine Pariser Gesprächspartner verwiesen auf die deutsche Kultur der Koalition, die in ihrem Land fehlt. „Das Vertrauen in die deutsche Lösungskompetenz und Kompromisskultur ist ausgeprägt.“
Eine gemeinsame Agenda für die beiden neuen Regierungen gäbe es sogar schon. 2018, noch unter Angela Merkel, wurde in Meseberg unter anderem eine stärkere Forschungszusammenarbeit vereinbart. Forschung und Entwicklung zu stärken und gemeinsam zu agieren, ist auch ein wichtiges Thema für die Unternehmen auf beiden Seiten des Rheins.
Wenn es um den Umbau der europäischen Wirtschaft geht, sieht Steinlein die Analyse des früheren italienischen Ministerpräsidenten und EZB-Chefs Mario Draghi als „wichtigen Referenzpunkt“. „Man sollte sich zunächst anschauen, was getan werden muss, und dann erst über die Finanzierung reden“, rät Steinlein beiden Seiten. In Deutschland war Draghi wegen der von ihm erwähnten europäischen Anleihen kritisiert worden, die aber nicht der entscheidende Teil des Berichts waren.
Die Zukunftshoffnungen in Frankreich selbst und bei den europäischen Partnern seien groß, manche erwarteten vom nächsten Kanzler „den großen Schritt nach vorn“, so der Botschafter. Er warnt vor „überschießenden Erwartungen“, denn die unterschiedlichen politischen Interessen und Traditionen beider Länder blieben ja bestehen. „Das sind langfristige Prozesse.“ Aber beim Abschied mit Blick auf den Jardin des Tuileries spürt man seine Hoffnung, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit im neuen Jahr endlich wieder Fahrt aufnimmt. Peter Ehrlich