Ursula von der Leyen – und das Amt der Kommissionspräsidentin – machtpolitisch zu unterschätzen, wäre ein Fehler. Der Dienstag zeigte das in aller Klarheit, als sie die Zuständigkeitsbereiche in der zweiten EU-Kommission unter ihrer Führung vorstellte. 40 Prozent sind Frauen, aber sie bekommen zwei Drittel der Vizepräsidentschafts-Rollen: Von der Leyen hatte wenig Einfluss auf das Personal, das sie bekam; sie nutzt ihre Macht nun, da sie die Arbeit verteilen kann.
Das Parlament muss die Kommission als Ganzes erst bestätigen; das wird wohl nicht vor November der Fall sein. Schauen wir uns von der Leyens Pläne an: acht Lehren.
Die Präsidentin verschlankt die Struktur der Kommission so weit wie möglich, an der Zahl ihrer Mitglieder kann sie ja nichts ändern: Es gibt nur noch sechs Vizepräsidenten, und nur eine Klasse davon, nicht zwei abgestufte wie bislang. Früher war mehr Konfetti. Sie sind informell die Koordinatoren der Parteienfamilien. Inhaltlich sollen sie Cluster verantworten, so heißt es offiziell. In Wirklichkeit bedeutet das: Sie sollen den Flaschenhals des Apparats bilden und von der Leyens Kabinett helfen, den Strom der Ideen für neue Regulierung aus den einzelnen Diensten aufzuhalten. Schließlich hat sie sich erneut weniger neue Bürokratie – Gesetzgebung – vorgenommen.
Das geht einher mit einer weiteren Zentralisierung in den eigentlichen Fragen: Der Pole Piotr Serafin, der das gewichtige Haushaltsressort übernimmt, hat einen der schwierigsten und einflussreichsten Jobs in der Kommission, auch ohne luftigen Vizetitel. Er muss den nächsten siebenjährigen EU-Haushaltsrahmen, ab 2028, erarbeiten und durch den Rat der Mitgliedsstaaten bringen. Er berichtet von der Leyen direkt, umweglos. Es geht um Einnahmen, Ausgaben, Sondertöpfe und in der EU tatsächlich darum, Prioritäten zu setzen. Botschaft: Wer Führung bestellt.
Dieselbe direkte Berichtslinie haben die Kommissare Maroš Šefčovič, der Dienstälteste von allen, der unter anderem für interinstitutionelle Beziehungen zuständig sein wird, und Valdis Dombrovskis. Letzterer war ein schwergewichtiger Fürsprecher der Stabilität im Stabilitäts- und Wachstumspakt, so gut es eben geht im ewigen Ringen zwischen Nord und Süd. Alles ein Zeichen für Prioritäten der Präsidentin, was ihre eigene Bilanz angeht: In Dombrovskis' neue Zuständigkeit fallen „Wirtschaft und Produktivität“, aber auch „Implementierung und Vereinfachung“.
Wirtschaft? Kann ansonsten der Süden haben. Die geografische Spannung löst von der Leyen dahingehend auf, dass die europäischen Mittelmeerländer große Teile der Portfolios mit Wirtschaftsbezug bekommen, darunter die Rolle der mächtigen (wenn nur der eher protektionistische Zeitgeist nicht wäre) Wettbewerbskommissarin für die spanische Sozialistin Teresa Ribera, zusätzlich zu einer Vizepräsidentschaft. Maria Luís Albuquerque wird Kommissarin für Finanzdienstleistungen. Sie gehört von der Leyens EVP an und kann in der angestrebten Reform der EU-Kapitalmärkte ungefähr da anfangen, wo sie aufgehört hatte, als sie 2015 als Portugals Finanzministerin abgelöst wurde.
Über Raffaele Fitto müssen wir sprechen: große Empörung im empörungsbereiten Lager, das seine Brandmauer am liebsten diesseits der EVP zöge (mit Ausnahme von der Leyens), darüber, dass der Italiener auch ein VDL-Vize wird. Er soll für „Kohäsion und Reformen“ zuständig sein, also dafür, wie (vor allem: wo) der zweitgrößte Batzen im EU-Budget nach der Landwirtschaft, plus der Corona-Aufbaufonds, ausgegeben wird. Giorgia Meloni soll Ownership fühlen, via ihrem treuen Gefolgsmann, auch wenn sie im Kreis der Regierungschefs nicht für von der Leyen die Hand hob. Fitto ist im Europaparlament ausgezeichnet vernetzt und eigentlich ein in der Wolle gefärbter EVP-Mann, der sich bloß mit Silvio Berlusconi, Gott hab ihn selig, überworfen hatte: Italien wie immer ein Labor, wo es raucht und kracht.
Von der Leyens erste Kommission wurde von Russlands Angriffskrieg überrascht, die zweite reagiert darauf. Mit der Estin Kaja Kallas als Außenbeauftragte, dem Litauer Andrius Kubilius als Verteidigungskommissar, und der Finnin Henna Virkkunen als ihm vorgesetzte Vizepräsidentin für „Technologie, Souveränität, Sicherheit und Demokratie“ hat die Präsidentin den Umgang mit der neuen Wirklichkeit in Hände gelegt, die an Eindeutigkeit nichts vermissen lassen. Ihre eigenen gehören übrigens auch dazu.
Damit zurück zum Handwerk: Die Kommissionspräsidentin hat ihre Rache eiskalt angerichtet. Den sehr ungeliebten Thierry Breton, den ihr Frankreichs Präsident für eine zweite Amtszeit als Kommissar vorschlug, wurde sie in einem echten Power-Move los: Sie ließ Emmanuel Macron entscheiden, ob er ein dickes Portfolio für Frankreich bevorzuge oder eine mindere Rolle für Breton, der längst offiziell als Kommissar vorgeschlagen war. Macron brauchte nicht lange. Von der Leyen entledigte sich Bretons, des Einzigen in ihrem Kollegium, der ihre Autorität je offen herausforderte.
Sie zeigte damit Macrons Schwäche auf: Sein Gewicht und das Frankreichs sind also auch relativ zum Willen der Präsidentin. Und Stéphane Séjourné, den von der Leyen gestern als einen der herausgehobenen Vizepräsidenten mit der Zuständigkeit für „Wohlstand und Industriestrategie“ betraute, steht als Leichtgewicht von ihren Gnaden da. Deutschland blieb ähnliche Behandlung erspart – im nationalen Interesse und diesbezüglich auch im eigenen hatte der Bundeskanzler ja von der Leyen wieder als Präsidentin mitgetragen. Florian Eder