von Tim Frehler, Elena Müller, Gabriel Rinaldi und Peter Ehrlich
Diese Meldung stammt aus dem folgenden Briefing des Dossiers Platz der Republik:
Wer die Stimmung bei den europäischen Partnern und an den Finanzmärkten gestern kurz nach 10 Uhr beschreiben will, muss nur auf die Börsenkurse schauen. DAX und MDAX hatten zwar schon vorher mit leichten Verlusten begonnen, aber nach der Nachricht vom gescheiterten ersten Wahlgang ging es beim MDAX erst mal um bis zu drei Prozent in den Keller. Beim Dax war es weniger heftig, vermutlich weil die im MDAX versammelten mittelgroßen Firmen noch mehr von der deutschen Wirtschaftspolitik abhängen als die ganz großen im DAX, berichtet Peter Ehrlich.
„Einfach nur bescheuert“ nannte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Chemischen Industrie, Wolfgang Große Entrup, den „Denkzettel“. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, Peter Adrian, sprach von einem „verheerenden Signal“. Die Aktienkurse erholten sich dann nach und nach und mit einem kleinen Sprung nach Bekanntgabe der erfolgreichen Merz-Wahl waren sie wieder da, wo sie vor dem ersten Wahlgang standen. So hat Friedrich Merz schon in den bangen Stunden als Beinahe-Nicht-Kanzler gesehen, wie deutsche Politik international wahrgenommen wird.
Schlag ins Gesicht: Die europäischen Staats- und Regierungschefs ließen ihre Gratulationen am Morgen erst einmal ungepostet. Mujtaba Rahman, gut vernetzter Chef der Eurasia Group, sprach aber sicher europäischen Politikern und Spitzenbeamten aus dem Herzen, als er von einem „Schlag ins Gesicht“ und einem „fürchterlichen Schlag“ sprach. „Phew“, postete er dann auf X, als Merz es geschafft hatte. Um kurz nach 17 Uhr begann dann der große Gratulationsreigen der Europäer. In seinem Glückwunsch an den „lieben Kanzler Friedrich Merz“ sagte Emmanuel Macron: „Es liegt an uns, den deutsch-französischen Motor stärker denn je zu machen“ und die Arbeit für Souveränität, Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit Europas zu beschleunigen.
Merzcron: Frankreichs Präsident wird der erste ausländische Politiker sein, den Merz heute besucht. Seine erste Reise führt ihn nach Paris und Warschau, wo er Macron und Donald Tusk trifft. Am Freitag geht es dann nach Brüssel, wo er mit António Costa, Ursula von der Leyen und Mark Rutte spricht. Im Élysée-Palast hatte man an den Planungen für das heutige Treffen zunächst festgehalten, auch als der Zeitplan in Berlin noch unklar war. Bei französischen Politikern und in den Medien sind die Erwartungen an Merz hoch – das Drama in Berlin war daher vielleicht nützlich, um die Einschätzungen realistischer zu machen.
„Wir sehen uns morgen in Warschau“, postete Polens Regierungschef Donald Tusk auf X. Mit Tusk, der zur gleichen Parteienfamilie gehört wie die CDU, hatte sich Merz schon nach seinem Wahlsieg getroffen – wie auch mit Macron. Der französische Präsident ließ sich gerne schon in vertrauter Pose mit Merz fotografieren. Scholz‘ Abschiede von Macron und Tusk fanden dagegen im nicht öffentlichen Rahmen statt. Bei den Gratulanten durfte natürlich auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen nicht fehlen: „Mit Dir zieht ein ausgewiesener Freund und Kenner Europas ins Kanzleramt ein.“
Selenskij wünscht sich Stärke: Die Masse an Glückwünschen, unter anderem von Indiens Ministerpräsident Narendra Modi oder seinen künftigen Kollegen im Europäischen Rat, wird Merz erst sortieren und von seinen diplomatischen Beratern bewerten lassen. Die Erwartungen vor allem eines Mannes sind besonders hoch: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij äußerte die Hoffnung, Deutschland werde nun stärker werden und in Europa und in den transatlantischen Beziehungen mehr Führung zeigen. Die Führung wurde also bestellt.