Ein weiterer Aufstieg der AfD hätte Konsequenzen weit über Deutschland hinaus und würde sogar geopolitisch die Lage verschieben. Nicht zu Deutschlands Vorteil, warnte Gerald Knaus, Gründer und Vorsitzender der European Stability Initiative (ESI) und einflussreicher europäischer Politikberater – in einer Woche, in der die Partei bundesweit der Union in Umfragen erneut näherkam, sie gar überholte. „Was passiert in Europa, wenn irgendwann in den nächsten eineinhalb Jahren das Gefühl entsteht, dass die AfD in Deutschland vielleicht doch bald an die Macht kommt?“, fragte Knaus im Gespräch. Er hat eine beunruhigende Antwort.
Misstrauen zerstört jede Integration: „Noch denken alle in Europa, dass es eine Sache gibt, die unverrückbar ist: Deutschland ist immer ein moderates Land in der Mitte Europas. Wenn aber erst einmal der Zweifel an dieser Überzeugung nagt, dann ändert sich in Europa alles“, sagte er. „Dann gelingt auch keine dringend nötige langfristige gemeinsame Rüstungspolitik mehr, weil andere fürchten müssten, dass ein AfD-Deutschland seine Nachbarn bald so behandeln würde, wie Donald Trump heute Kanada behandelt, sie bedrohen würde. Man sägt hier am Stützpfeiler der Stabilität in Europa“, sagte er.
Was tun? „Um das auszuschließen, brauchen alle Parteien eine Strategie, die auch wirken kann, gerade jetzt, wo die AfD bereits Nummer eins in jedem ostdeutschen Bundesland ist, und Nummer zwei in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen“, sagte Knaus. Für den Migrationsexperten und Architekten des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens heißt das: der AfD ihr Kernthema aus der Hand zu nehmen.
Dringender Handlungsbedarf: „Jetzt müsste jede pro-europäische Partei, jede Partei, die sich um den Rechtsstaat, die EU und deren Verteidigungsfähigkeit Sorgen macht, jede, die eine EU will, die Putin gemeinsam entgegentritt und den Welthandel zu retten versucht, klar sehen, dass Deutschland und Europa bei der Migration auch deswegen dringend eine mehrheitsfähige Politik brauchen.“ Für ihn wäre das eine, „die dieses Thema so adressiert, dass es als Sprengstoff in den Händen der Rechtsextremen entschärft wird“, sagte er. „Das sehe ich in diesem Moment erstaunlicherweise noch nicht.“
Im Tiefgang mehr zu Knaus’ Vorschlägen – für eine pragmatische, menschenrechtsbasierte Migrationspolitik. Spoiler: An Zurückweisungen als zentrales Instrument glaubt er nicht.