Kaum ein Vorgang in Berlin verlangt gleichzeitig so viel gegenseitiges Vertrauen, parteipolitische Disziplin und staatsbürgerliches Augenmaß wie die Wahl von Richterinnen und Richtern ans Bundesverfassungsgericht. Und doch ist ausgerechnet dieser sensible Mechanismus zum Symbol dessen geworden, was die Politik gerade nicht sein will: hohes Prinzip, große Worte – und am Ende parteitaktisches Klein-Klein.
Die im Bundestag vorerst gescheiterte Wahl von Günter Spinner, Ann-Katrin Kaufhold und Frauke Brosius-Gersdorf für das Bundesverfassungsgericht hat zwar zuletzt weniger Schlagzeilen gemacht. Die Unionsführung hat Fehler eingeräumt, Brosius-Gersdorf sich gegen die Kampagne gegen ihre Person gewehrt.
Doch selbst wenn Union und SPD bis zum Sommerende eine Lösung finden, bleiben aus Sicht von Verfassungsrechtlern zwei Fragen: Wie lassen sich künftig stabile Mehrheiten für Richterwahlen organisieren – und wie kann eine übermäßige Politisierung des Karlsruher Gerichts verhindert werden?
„Wenn es um Personalfragen geht, geht es auch um Gewissensfragen“, erklärte Bundeskanzler Friedrich Merz nach dem Fehlschlag im Bundestag. In Berlin gilt: Wer sich auf das Gewissen beruft, darf Fraktionsdisziplin ignorieren. Der frühere Verfassungsrichter Peter M. Huber, selbst ehemaliger CDU-Politiker, widerspricht: „Mit Gewissen hat das nichts zu tun, es geht um eine strategisch-politische Personalentscheidung“, sagte er SZ Dossier. „Die Richterwahl zu Gewissensfrage zu erklären, finde ich etwas schief“, sagt auch Staatsrechtlerin Sophie Schönberger von der Universität Düsseldorf. „Wenn man eine Person aus Gewissensgründen ablehnt, klingt das nach Ablehnung aus moralischen oder ethischen Gründen.“
Im Hintergrund steht die wiederkehrende Debatte über die Rolle der Abgeordneten. Artikel 38 Grundgesetz definiert die Abgeordneten als „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Grundsätzlich kann keine Fraktion ihre Mitglieder zu einem Abstimmungsverhalten zwingen. „Aber ohne eine gewisse Fraktionsdisziplin und Arbeitsteilung auf Expertenebene funktioniert Politik nicht“, so Verfassungsrechtler Horst Dreier. Bis 2015 entschied allein der Richterwahlausschuss über Kandidatinnen und Kandidaten. „Wenn das Verfahren noch gelten würde, wären die drei Kandidaten gewählt“, sagt Dreier.
Appelle der Parteispitzen an Abgeordnete gelten als zulässig, selbst deutliche Hinweise auf die Wiederaufstellung zur Wahl. „Diesen Druck muss er aushalten, bis hin zu der Drohung, dass eine erneute Kandidatur für den Bundestag durch seine Widerspenstigkeit gefährdet sei“, heißt es im Grundgesetzkommentar Maunz/Dürig/Klein. Unmittelbarer Zwang, etwa durch Drohungen mit Fraktionsausschluss, sei aber nicht erlaubt.
Bei geheimen Wahlen, wie sie im Bundestag üblich sind, entfällt jeder äußere Druck ohnehin. „Bei geheimen Wahlen gibt es keine Sanktionsmöglichkeiten gegen Abgeordnete“, sagt Schönberger. Huber ergänzt: „Die Stellung der Abgeordneten gegen Regierung und Fraktionsführung zu stärken, ist im Übrigen ein Anliegen des Bundesverfassungsgerichts.“
Huber weist auch auf die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit hin, die ohne breite Zustimmung nicht zu erreichen ist. „Der Vorgang zeigt, dass in der gesamten Wahlperiode die Zwei-Drittel-Mehrheit prekär ist. Das könnte kleineren Gruppen in den Koalitionsfraktionen Blockademöglichkeiten geben“, analysiert Schönberger.
Der Fall Brosius-Gersdorf könnte langfristige Folgen für das Verfahren haben. „Wenn sich jeder angehende Verfassungsrichter einer großen öffentlichen Debatte stellen muss, könnte das den Charakter des Gerichts verändern“, befürchtet Rechtsanwalt Dominik Lück aus Potsdam, der im Deutschen Anwaltverein aktiv ist. Es könne passieren, dass künftig vor allem Kandidaten ohne öffentliches Profil gesucht werden – mit Folgen für die Autorität des Gerichts. „Die Autorität des Gerichts basiert sehr stark darauf, dass es als Institution und nicht über einzelne Richterpersönlichkeiten wahrgenommen wird“, sagt Schönberger. Eine stärkere Personalisierung könne das ändern.
Etwas gelassener sieht es Huber. Es habe immer öffentlich diskutierte Kandidaten gegeben. Der Charme von Karlsruhe liege darin, „dass Richterinnen und Richter ihre Positionen in den Beratungen verändern“. Anhörungen wie in den USA, bei denen sich Kandidaten festlegen müssen, würden diesem Ideal widersprechen.
Horst Dreier, selbst einst SPD-Kandidat und damals am Widerstand der Union gescheitert, verweist auf das größere Bild: Nach Besetzung der drei offenen Stellen ist der Bundestag erst 2029 wieder für Wahlen zum Verfassungsgericht gefragt. Bis dahin ist der Bundesrat am Zug, der die zweite Hälfte der Richterstellen besetzt.
Schon vorher, glaubt Dreier, werde es eine andere Diskussion geben: „Bis dahin wird sich die Frage stellen, ob die derzeitige Verteilung der Vorschlagsrechte zwischen den Parteien noch angebracht ist“, sagt er. Bislang durften Union und SPD jeweils drei, Grüne und FDP einen Richter vorschlagen. Beim nächsten Mal könnte die Lage schon ganz anders aussehen.