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Briefing

Platz der Republik,

Union entdeckt den Strompreis – unter Bedingungen

Guten Morgen. 405 km/h fuhr der neue Siemens-Zug „Velaro Novo“ am Wochenende auf einem Abschnitt der Strecke Berlin – München. Ein Rekord. Heute allerdings braucht man für die Gesamtverbindung aus irgendeinem schlechten Grund wieder einmal fünfeinhalb Stunden: Da ist der Versuch der Bahn verständlich, mit einer Zukunftsvision über die triste Gegenwart hinwegzutäuschen.

Jens Spahn kennt das Prinzip: Dem Unionsfraktionschef scheint die wenig ergiebige, aber hartnäckig am Leben gehaltene Diskussion über seine damalige Maskenbeschaffung gegenwärtig nun doch so auf die Nerven zu gehen, dass ihm eine Verlagerung auf eine andere Ebene angezeigt schien.

In der Welt am Sonntag forderte er Zugriff auf die Atomwaffen Frankreichs und Großbritanniens oder einen europäischen Atomschirm, so lautete die Meldung. Belegt durch die Zitate: „Europa muss abschreckungsfähig werden.“ Und: „Wer Schutz will, muss ihn eben auch finanzieren.“ Kritik kam prompt von einschlägigen SPD-Leuten, in der Sache sehr besorgt. Was das aber heißen soll, geschweige denn, wo er bestellen will? Spahn musste es bislang nicht einmal ausbuchstabieren.

Willkommen am Platz der Republik.

1.

Die Union erwägt, die Zahl ihrer gebrochenen Wahlkampfversprechen um eins zu reduzieren. Kanzleramtschef Thorsten Frei zeigte sich am Sonntagabend offen für Gespräche über eine mögliche Senkung der Stromsteuer für alle. „Man muss eben schauen, wo kommt das Geld letztlich her“, sagte er in der ARD, quasi badischer Hausmann. Er gab als Zielmarke die geplante Verabschiedung des Bundeshaushalts im September vor: „Wenn wir auf dem Weg dahin bessere Lösungen finden, dann bin ich sehr offen dafür, dass wir dann die Stromsteuer auch weiter senken.“

Anderswo sparen: Frei machte erstens eine Umschichtung im Bundeshaushalt zur Bedingung und zweitens gleich den Koalitionspartner verantwortlich, sollte dies nicht gelingen: „Wenn es dafür geeignete Möglichkeiten gibt und das in der Koalition insgesamt konsensfähig ist, dann ist es ein Weg, über den man sprechen kann“, sagte Frei. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche, wie Frei von der CDU, hatte vergangene Woche Pläne kassieren müssen, nicht nur Industrie und Bauern von der Steuer auf Strom etwas zu entlasten, sondern auch Verbraucher, Handwerk, alle eben.

Das „Argument“: kein Geld da. Die Folge: eine Fortschreibung einiger von der Union neulich noch geschmähter Teile der Wirtschaftspolitik Robert Habecks – teure Energie und Subventionen für die größten Verbraucher nämlich. Das zu verteidigen ging übers Wochenende nicht allen führenden Unionsleuten leicht über die Lippen, darunter Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst.

2.

Nach der Selbstverpflichtung der europäischen Nato-Länder auf Verteidigungsausgaben von fünf Prozent rückt eine Frage in den Vordergrund: Können und wollen alle Länder das aus den nationalen Haushalten stemmen? Das Wollen ist längst geklärt: nein.

Frankreichs Sorgen: Für Clément Beaune, Emmanuel Macrons langjährigen Vertrauten und heute Hochkommissar für Strategie und Planung beim Premierminister, ist klar: Die Summen lassen sich vielfach nicht allein stemmen. Frankreich müsste bis 2030 rund 60 Milliarden Euro zusätzlich aufbringen – eine Verdopplung seines Verteidigungshaushalts. „Das ist machbar“, sagte Beaune, „aber es ist ein enormer Kraftakt.“ Seine Frage: Wie lässt sich das finanzieren, ohne Sozialstaat, Klimapolitik und Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden?

Ein Projekt für Europa. Der Ruf nach Europa wird lauter – über das hinaus, was bisher möglich ist: nämlich etwa Ausweichklauseln, damit Verteidigungsausgaben keine Verletzung des Stabilitätspakts bedeuten. Frankreich, Italien und Spanien haben bisher nicht angekündigt, sie in Anspruch nehmen zu wollen – was den Druck auf Deutschland erhöht, sich zu bewegen: Eine Eurobonds-Debatte hat sich angeschlichen; die Financial Times war am Wochenende sehr wohlwollend, das wird noch oft zu hören sein von interessierter Seite.

Beaune forderte bei einer Debatte auf dem Jahrestreffen des Thinktanks ECFR in Warschau an diesem Wochenende ein umfassendes europäisches Projekt: strategisch, industriell, politisch. Ein reiner Topf in Brüssel greife zu kurz. Gemeinsame EU-Kredite schloss er nicht aus – solange sie nicht bloß nationale Lücken stopfen. „Es geht nicht nur ums Geld, sondern um den politischen Rahmen.“

Erwartungen an Berlin. Thomas Bagger, bis vor Kurzem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, warnte vor vorschnellen Strukturdebatten. „Zuerst muss das Geld effizient ausgegeben werden – dann kann man über europäische Instrumente reden.“ Es gehe um langfristige politische Akzeptanz, nicht nur um Summen. Neue Institutionen lehnt er ab, setzt auf flexible Formate, pragmatische Allianzen – und Augenmaß. „Die EU-27 sind legitim, aber langsam – kleine Gruppen effizient, aber nicht legitimiert. Wir müssen uns zwischen diesen Polen bewegen.“

Ein Anlass kommt: „Die nächste Gelegenheit für die neue Bundesregierung, die europäische Debatte – wo kommt das Geld her, wo geht es hin – zu prägen, ist in den Verhandlungen um den nächsten mehrjährigen EU-Finanzrahmen“, so Bagger. „Dabei wird insbesondere die Frage im Raum stehen: Welche Rolle spielt die Verteidigung in diesem großen europäischen Haushalt?“

3.

Die Grünen wollen wieder angreifen und sich als führende Kraft der linken Mitte etablieren. In einem Strategiepapier zur heutigen Klausur des Fraktionsvorstands ziehen die Vorsitzenden Britta Haßelmann und Katharina Dröge Bilanz – und Konsequenzen. Man habe in der Regierungszeit teils zu leise agiert, zu defensiv, schreiben sie. Jetzt sei die Zeit, „auszusprechen, was ist“, statt sich zu rechtfertigen. Mit Blick auf CSU-Chef Markus Söder heißt das dann auch mal: „Was für ein Unsinn.“

Inhaltlich ziehen die Grünen eine doppelte Klammer: Der Klimaschutz bleibt Leitidee – aber sowohl emotionaler als auch machtpolitischer gedacht. Zugleich entdecken sie die soziale Frage neu: ein „Pakt für bezahlbares und gutes Leben“ soll Alltagspolitik aufwerten, mit billigem Strom, besserer Daseinsvorsorge und Entlastung der Kommunen. Soziale Gerechtigkeit, wie sie auch die SPD formulieren könnte, aber verbunden mit Klarheit in anderen Dingen, wie sie die SPD eben nicht formuliert.

Klarheit und Pragmatismus: In der Außen- und Sicherheitspolitik setzen die Grünen auf Realismus, nicht auf Waffentechnik-Debatten. Frieden, Freiheit und Vielfalt bräuchten Sicherheit – das sei die Lehre aus der russischen Aggression. Da ist Platz: Die SPD neigt zur Rücksichtnahme auf ihre Russland-Romantiker, die Linke zu genereller Unverantwortlichkeit. Die Grünen hingegen wollen auch in der Opposition „konstruktiv bleiben“, also kompromissbereit – und dabei klar in der Haltung: „Gute Politik ist mehr als die steilste These, die beste Pose.“

Die strategische Neupositionierung braucht ein Gesicht. Wer sie verkörpern soll – darüber steht im Papier nichts und auch sonst sind derzeit keine allzu starken Führungsfiguren zu erkennen. Aber nun: Bei der SPD, der Konkurrentin um die Vorherrschaft der linken Mitte, ist es womöglich andersherum.

Die SPD hatte sich viel vorgenommen: einen Neustart, neue Stärke, frische Ideen, unbelastetes Personal. Nach dem Desaster bei der Bundestagswahl wollte sie wieder Gewicht gewinnen – und der Union etwas entgegensetzen. Dafür hat die Partei ein neues Leitmotiv ausgegeben: „Gerechtigkeit“. Unter Olaf Scholz war es noch „Respekt“, jetzt soll es wieder nach mehr klingen: Der Parteitag 2025 stand ganz im Zeichen der Erneuerung.

Das Motto: „Veränderung beginnt mit uns“. Zurück zu den Wurzeln – oder, wie es heute heißt, zu den „fleißigen Menschen“. So war der Plan. Er ging nicht ganz auf.

Der Parteitag, ein Drama in drei Akten.

Erstens: Parteichef Lars Klingbeil wollte sich im Amt bestätigen lassen. Ihm war klar, dass seine Machtfülle (Parteichef, Vizekanzler, Finanzminister) zu Lasten von Esken, Heil und anderen intern für Unmut sorgt. Also sprach er den Elefanten im Raum direkt an: „Ich weiß, dass ich euch einiges abverlangt habe die vergangenen Monate. Und ich kann euch nicht versprechen, dass es nach vorne nicht auch immer wieder so sein wird.“ Genutzt hat es nichts.

Klingbeil wurde abgewatscht. Warum genau – unklar. Von wem – hat er in der vorhergehenden Aussprache jedenfalls nicht erfahren. Das Ergebnis: 64,9 Prozent Zustimmung ohne Gegenkandidat. Bärbel Bas bekam als neue Co-Vorsitzende 95 Prozent. Klingbeil, sichtlich angefressen, dachte dem Vernehmen nach kurz über einen Rücktritt nach. Nur: Wer hätte ihn ersetzt? Und was hätte das für die Koalition mit der Union bedeutet? Ein abgewählter Parteichef – das wäre auch wieder keine gute Ausgangslage neben dem selbstbewussten Merz, um sich für die nächste Wahl aussichtsreich aufzustellen.

Also, zweiter Akt: Wunden lecken, weitermachen. Statt Aufbruch erst einmal Abschied – von Scholz und Saskia Esken. Scholz lobte sich selbst und verteilte einen Seitenhieb in Richtung Klingbeil: „Ich habe alles, was ich getan habe, niemals in einer Profilierung gegen die SPD getan.“ Aua.

Die Partei rang mit sich: über das Friedensprofil, über das Russland-"Manifest" von Rolf Mützenich und Ralf Stegner, über die Wehrpflicht. Ein Kompromiss zwischen Jusos und Pistorius wurde gefunden. In der Partei hoffte man, das schlechte Klingbeil-Ergebnis werde sich „über die Sommerpause versenden“.

Die Vorsitzende der NRW-SPD, Sarah Philipp, seit Samstag Mitglied des Parteivorstands, sagte SZ Dossier am Samstag: „Ich finde das Ergebnis für Lars Klingbeil nicht schön, es war jetzt auch nicht hilfreich, gar keine Frage.“ Im Nachgang müsse man nun gemeinsam dafür sorgen, den Parteitag gut zu Ende zu bringen.


Das schien zunächst gelungen – dritter Akt. Ein Stück Einigkeit gab es am Ende doch: Mit breiter Mehrheit beschloss der Parteitag, die Prüfung eines AfD-Verbotsverfahrens zu fordern. Klingbeil sprach erneut, nannte das Vorhaben eine „historische Aufgabe“, der Applaus war merklich lauter als zuvor. Auf den Kampf gegen rechts konnten sich alle verständigen – und klatschten sich mit Verve durch den Schlussakt.

Doch die Euphorie hielt nicht lange. Alexander Schweitzer, der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, warnte vor Aktionismus: Ich bin nicht gegen ein AfD-Verbotsverfahren, ich bin dafür, wenn man es nutzt, es aber auch zum Erfolg bringt – und nicht vorzeitig damit beginnt und womöglich eine harte juristische, aber auch politische Niederlage in Kauf nimmt“, sagte er. So viel zum schärferen Profil.

Generalsekretär Tim Klüssendorf hatte angekündigt, die SPD müsse über die Regierungsarbeit hinaus wieder erkennbar werden. Die AfD-Debatte böte Potenzial – auch für Streit mit der Union. Ob der Erneuerungsprozess, der bis zum nächsten ordentlichen Parteitag 2027 abgeschlossen sein soll, das Potenzial hat, die Union als Volkspartei ernsthaft herauszufordern, bleibt auch nach drei Tagen SPD-Drama offen.

von Elena Müller

4.

Fernziel 2029: Spätestens 2029 werde es einen Bundestag mit einer starken BSW-Fraktion geben. Zumindest hat das die Partei bei einer Klausurtagung am Wochenende so beschlossen. Im kommenden Jahr will sie außerdem in allen ostdeutschen Landtagen vertreten sein. Den Anspruch an sich selbst, in die Landesparlamente in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz einzuziehen, formuliert die Partei demnach nicht. Auch dort wird nächstes Jahr gewählt.

Die Klassiker sollen es richten: Zur Wahlniederlage 2025 äußert sich das Papier kaum selbstkritisch. Stattdessen macht die Partei eine mediale „harte Kampagne“, Unregelmäßigkeiten bei der Stimmauszählung und die Beteiligung an Landesregierungen – vor allem in Thüringen – für das Abschneiden verantwortlich. Auch inhaltlich bleibt es bei Bekanntem: Frieden, soziale Sicherheit, Migrationsbegrenzung und Kritik an „Cancel Culture“: Deutschland, so heißt es, befinde sich „auf abschüssiger Bahn in Richtung Autoritarismus“.

Wagenknecht trifft Wolf: Strukturell will sich das BSW neu aufstellen. Aktuell konzentriere man sich dabei auf den Parteiaufbau, die Gründung regionaler Strukturen und die Gewinnung neuer Mitglieder, heißt es im Positionspapier. Für Wagenknecht geht es heute in Erfurt weiter. Dort besucht sie die BSW-Fraktion im Thüringer Landtag rund um Katja Wolf. Aufzuarbeiten gibt es schließlich auch in diesem Verhältnis viel.

5.

Keine Vergeltung: Europäische und asiatische Unternehmen müssen in den USA keine „Rachesteuer“ mehr fürchten. Die G7-Staaten einigten sich mit der US-Regierung auf einen Kompromiss, der eine Eskalation im Streit um die globale Mindeststeuer abwendet. Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien, Kanada und Japan erklären sich bereit, US-Konzerne von der 15-Prozent-Mindestbesteuerung auszunehmen – weil es in den USA in der Theorie eine vergleichbare Regel gibt. Im Gegenzug streicht Donald Trump Abschnitt 899 aus seinem Finanzpaket – jenen Teil, der im Ausland als „Vergeltungsteuer“ bekannt geworden war.

Keine Doppelbesteuerung: Der Streit geht auf die 2021 beschlossene globale Mindeststeuer zurück, mit der fast 140 Staaten die Steuervermeidung großer Konzerne beenden wollten. Doch die USA haben das Abkommen bis heute nicht in nationales Recht überführt – was Trump zum Anlass nahm, es per Erlass für wirkungslos zu erklären. Mit der nun abgewendeten Racheklausel wollte er Staaten bestrafen, die sich an der Mindeststeuer beteiligen oder nationale Digitalsteuern einführen. Ob Deutschlands Vorhaben in dieser Richtung davon gebremst wird, hat Kulturstaatsminister Wolfram Weimer zu klären.

Meine Sprache ist nüchtern, und damit komme ich aus.

Bundeskanzler Friedrich Merz dämpft im SZ-Interview etwaige Erwartungen auf überschwängliche SMS an den US-Präsidenten

In Budapest gingen am Wochenende zahlreiche europäische Politiker bei der Pride-Parade mit – demonstrativ, sichtbar, solidarisch mit dem queeren Volk. Vor allem Sozialisten, Liberale und Grüne führten dabei die Absurdität der ungarischen Strafandrohung vor Augen. Gleichzeitig konnte Orbáns Lager die Pride erneut als von Brüssel gesteuert brandmarken – ein Vorwurf mit Tradition und gewisser Wirkung. Der ungarische Oppositionsführer Péter Magyar hielt sich jedenfalls fern, um nicht als Marionette dazustehen. Solidarität ist nie unpolitisch.

Janosch Dahmen, Bundestagsabgeordneter der Grünen, hat derweil in Berlin eigene Vorstellungen von ihren Grenzen. Auf X beschreibt er, wie Jens Spahn und der Abgeordnete Hendrik Streeck, der seinen Bonner Wahlkreis im Februar auf Anhieb direkt gewann, einmal gemeinsam bei einem Empfang des früheren US-Botschafters Richard Grenell gesehen wurden. „Was wie Geselligkeit aussah, wurde zum Karrierekatapult“, schreibt Dahmen – und spricht von einem „Netz, in dem Loyalität nicht eingefordert werden muss, sondern als Selbstverständlichkeit gilt“.


Keine Pointe: Stehen drei Schwule auf einer Party zusammen – und ein Grüner strickt ihnen daraus den Vorwurf einer Seilschaft.

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