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Briefing

Platz der Republik,

Die Kunst, sich klein zu machen

Guten Morgen. Das Freibad, heißt es, sei ein Spiegel der Gesellschaft. Morgens ziehen die Ehrgeizigen ihre Bahnen auf der abgetrennten Doppelspur, bis sich die Gemächlichen dazumischen, immer mehr werden, die Dynamik kippt und die Sportler weichen.

Die großen politischen Grundwerte lassen sich schon früh im Wasser verhandeln. Am Nachmittag macht die Jugend sich das Bad zu eigen, und ans Schwimmen ist erst am Abend wieder zu denken: Im Sommer, in Berlin-Pankow, geht es zwischen Kraulzug und Kopfsprung um Fürsorge, Fairness, Loyalität, Leistung, Autorität – und Freiheit.

Die Fragen, die Politik heute beschäftigen – beim Mindestlohn, dem Bürgergeld, dem Familiennachzug oder der Debatte um sichere Drittstaaten – führen alle zurück auf eine Auseinandersetzung um diese Werte. Dass sie heute kontroverser geführt wird als noch vor wenigen Jahren, ist kein Schaden. Die politische Mitte ist breiter geworden – und beweglicher.

Nur dass im Freibad einer pfeift, wenn es zu bunt wird.

1.

Die Union hatte ja eine Migrationswende versprochen und nicht bloß, mit dauerhaften Grenzkontrollen den freien Personen- und Warenverkehr zu erschweren. Heute stimmt der Bundestag über eine Aussetzung des Familiennachzugs für Menschen mit eingeschränktem Schutzstatus ab.

Ob die Kanzlermehrheit steht? Vereinbart war der Schritt im Koalitionsvertrag auf Drängen der Union. Für viele in der SPD ist er nur schwer übereinzubringen mit den politischen Grundwerten des linken Lagers; der Parteitag vor der Tür macht es nicht angenehmer. Auch nicht, dass Außenminister Johann Wadephul gestern erklärte, private Seenotrettung nicht länger mit Steuergeld zu unterstützen.

Rückbau: Gleichzeitig müssen die Genossen beginnen, die Ampel mit rückabzuwickeln – etwa bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Erst seit auf den Tag genau einem Jahr in Kraft, soll die Möglichkeit zur Einbürgerung nach nur drei Jahren nun wieder gestrichen werden.

Neue Freunde: Unterdessen hat Bundeskanzler Friedrich Merz seinen ersten EU-Gipfel dazu genutzt, sich einer Gruppe von restriktiven Reformern der Migrationspolitik anzuschließen, der sein Vorgänger nichts abgewinnen konnte, organisiert von Italien, Dänemark und den Niederlanden. Sie sind die Antreiber von erleichterten Abschiebungen und von Asylverfahren auch in Drittländern.

Alte Fragen: Das ist längst kein randständiges Programm mehr in Europa – doch wie lange solche Vorhaben dauern, zeigt das Beispiel der letzten großen EU-Asylreform: unter großen Schmerzen erreicht, heute von maßgeblichen Ländern wie Deutschland als reformbedürftig angesehen, ebenso von der Europäischen Kommission – und dabei ist sie noch nicht einmal in Kraft. Die Umsetzungsfrist in nationales Recht läuft bis Juni 2026.

2.

Heute Mittag will die Mindestlohnkommission in Berlin ihre Empfehlung für die nächste Erhöhung ab 2026 vorlegen. Kurz darauf eröffnet die SPD ihren Parteitag.

Kollision programmiert: Die SPD drängt seit Monaten auf 15 Euro. Es geht um ihre Glaubwürdigkeit, um ihr sozialpolitisches Profil und um die Handhabbarkeit der Delegiertenstimmung für die Parteiführung. Der Union wäre ein Einverständnis mit der Kommission abzuverlangen, aber nur schwerlich eine aktive Rolle bei der Erhöhung.

Doch dem Vernehmen nach könnte die Kommission unter der Marke bleiben oder sich womöglich gar nicht einigen. Damit wäre das Thema wieder auf dem Tisch der Politik. Der Koalitionsvertrag besagt: Die Höhe des Mindestlohns soll nicht politisch festgesetzt werden – wobei er 15 Euro dennoch als Ziel ausgibt.

Die Mehrdeutigkeit rächt sich, wie immer. Der Rahmen der Einordnung der 15-Euro-Marke von interessierter Seite reicht von „Lohnpopulismus“ (BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter) bis kurz vor die unmittelbare Ableitung aus Artikel 1 Grundgesetz im linken Lager.

3.

Kein Koalitionsstreit droht beim ersten Rentengesetz der Bundesregierung, aus dem Haus von Sozialministerin Bärbel Bas. An die beschwörende Kraft eines Rechtstextes aus eigener Feder glauben alle Koalitionäre gern. Etwa an diesen Satz: „Die gesetzliche Rentenversicherung ist derzeit finanziell stabil aufgestellt.“ Der Referentenentwurf ging gestern herum, auch uns liegt er vor.

Is klar: So stabil, dass der Beitragssatz ab 2027 steigen muss, wie die Rentenversicherung diese Woche mitteilte. Bas’ Ministerium selbst rechnet mit einem Anstieg auf über 22 Prozent in den kommenden zehn Jahren – und mit durchaus enormen Summen aus dem Bundeshaushalt, die es zusätzlich braucht. Anstatt die Beiträge zu begrenzen, schreibt die Regierung das (durchschnittliche, theoretische) Rentenniveau fest. Das führt absehbar zu noch stärkeren Rentensteigerungen als nach heutigem Recht und damit zu noch höheren Belastungen für alle, die einzahlen.

Jung und veräppelt: Es ist eine Übung, an deren Nachhaltigkeit nur glauben kann, wer den Renteneintritt bereits vor Augen hat. Das sind viele – und politisch gesehen: Sie sind leichter zu überzeugen als die Jüngeren. Wer heute 35 ist, interessiert sich eher für die Miete als für die Rente. Wer 60 ist, fürchtet eher um den Ruhestand als um Systemgerechtigkeit.

Finanzminister müsste man sein. Die Union könnte an der Causa ablesen, was sie mit dem Finanzministerium aus der Hand gab: die Möglichkeit, Herzensprojekte von Parteifreunden aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren. Für eine Senkung der Stromsteuer, ein zentrales Versprechen der Union, sei eben kein Geld da – den Teil der Prioritätensetzung musste die CDU-Wirtschaftsministerin Katherina Reiche diese Woche noch verteidigen.

Zur Erinnerung: Die Einnahmen aus einer CO₂-Bepreisung werde die Regierung „gezielt an die Wirtschaft und die Bürger zurückgeben“, sagte Merz in seiner ersten Regierungserklärung am 14. Mai. „Wir werden in einem ersten Schritt die Stromsteuer senken.“

Es gibt Momente in der internationalen Politik, in denen Würde verhandelbar wird. Wenn das Ziel groß genug ist, dann darf die persönliche Haltung auch mal unter das diplomatische Parkett rutschen. Mark Rutte hat damit nie ein Problem gehabt.

Diese Woche hat der Nato-Generalsekretär eine Meisterleistung vollbracht: Er lobte Donald Trump so unverhohlen, dass es schon unangenehm war. Und war damit erfolgreich, nach seinen eigenen Kriterien.

„Donald, Sie haben uns zu einem wirklich, wirklich wichtigen Moment für die USA und Europa, für die ganze Welt geführt“, schrieb Rutte in einer Nachricht an Trump. „Sie werden etwas erreichen, was KEIN amerikanischer Präsident seit Jahrzehnten geschafft hat. Europa wird in GROSSEM Stil zahlen, so wie es sich gehört – und es wird Ihr Sieg sein.“

Erste Frage: Ist das echt? War es. Zweite Frage: Machte sich Rutte lustig über den US-Präsidenten und seine Neigung, sich schmeicheln zu lassen? Nein. Es ist so schlicht wie wahr: Er hat sich eingeschleimt. Dass Trump die Nachricht öffentlich machte, wurde nur von anderen als demütigend empfunden.

Ob das nicht erniedrigend gewesen sei? „Eine Frage des Geschmacks“, sagte Rutte. „Aber er ist ein guter Freund.“

Weitere Zutaten dieser Strategie: Trump eine Nacht bei den niederländischen Royals verschaffen – im Huis ten Bosch, dem Wohnpalast des Königspaars. Eine seltene Ehre, und sie wirkte. Rutte weiß, dass Symbole zählen – besonders bei Trump.

Und er weiß, wie man Trump eine Rolle anbietet, die diesem nützt – oder schmeichelt. Als der Präsident den Krieg zwischen Iran und Israel mit einer Prügelei zwischen zwei Schulhof-Rowdys verglich („Sie kämpfen wie die Wilden, man kann sie nicht aufhalten. Lassen Sie sie zwei, drei Minuten lang kämpfen. Dann ist es einfacher, sie zu stoppen“), sprang Rutte ihm nicht nur bei, sondern adelte ihn mit einem pädagogischen Bild: „Und dann muss Papa manchmal harte Worte verwenden“, sagte er.

Trump als durchgreifender Daddy: Eine Variante der Taktik, die kürzlich auch Friedrich Merz bei seinem Besuch im Weißen Haus angewandt hat: Trump eine Rolle zuzuschreiben, die dieser selbst gar nicht unbedingt einnehmen würde – aber schmeichelhaft genug ist, um zu wirken.

Rutte hat die Kunst der politischen Demut perfektioniert. Im niederländischen Parlament war es fast sein Markenzeichen: Runterschlucken, relativieren, entschärfen. „Sag einfach, dass es dir leid tut, dann bist du fertig damit“ – das war sein Rat an jüngere Minister, wie sich ein Weggefährte erinnert. Nicht aus Schwäche, sondern aus Effizienz. Im Europäischen Rat war es ähnlich: Wer sich über seine Schmeicheleien wunderte, verstand nicht, wie sehr Rutte das Ergebnis über das Ego stellt.

Dass ihm egal ist, was andere von ihm denken, solange das Resultat stimmt, ist kein Geheimnis. Sich herabzulassen – öffentlich, sichtbar, auch unangenehm – ist in seinen Augen ein kleiner Preis. Jedenfalls im Vergleich zu dem, was andere zahlen müssten, wenn das Bündnis scheitert.

„Es war nicht einfach, aber wir haben sie alle dazu gebracht, sich zu 5 Prozent zu bekennen“, vermeldete Rutte noch. Stolz auf das Ergebnis – nicht auf den Weg dorthin.

Nicht alle sehen das so nüchtern. Der frühere litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis sprach aus, was viele in Europa dachten: Die Wortwahl sei „geschmacklos“ gewesen, habe Europa „zum Bettler“ gemacht – „erbärmlich vor unseren transatlantischen Freunden und unseren östlichen Gegnern zugleich“.

Doch es gibt auch andere Stimmen. Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen“, sagt Thomas Erndl, verteidigungspolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag. Der Zusammenhalt der Nato sei von existenzieller Bedeutung für Europas Sicherheit, und der Gipfel in Den Haag ein Erfolg – nicht trotz, sondern wegen Ruttes eigenem Stil. „Am Ende wird man eben am Ergebnis gemessen – und das gilt schon jetzt als historisch. Die fünf Prozent sind keine Trump-Gefälligkeit, sondern in unserem ureigenen Interesse und die Grundlage für eine glaubwürdige Abschreckung.“

Die großen drei der Nato in Europa – der Bundeskanzler, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der britische Premier Keir Starmer – sahen keinen Grund, Rutte zu kritisieren. Sie selbst, so war zu hören, sahen den Message-Vorfall als Warnung, in der Kommunikation mit Trump mit allem zu rechnen und demnach doppelt vorsichtig zu sein. Sie wollen weiter ein gewisses Selbstbewusstsein zeigen und Trump durch stetige Wiederholung beeinflussen, etwa in der Frage der Sanktionen gegen Russland.

Rutte glaubt wirklich, dass es Trumps Druck war, der Europa wachgerüttelt hat – und dass ein neuer Anlauf nur mit einem Respekt vor diesem Mann gelingt. Er vergaß vielleicht, dass es im hohen Amt des Nato-Generalsekretärs nicht mehr nur um seinen Ruf geht. Auch der Stolz der übrigen Verbündeten steht auf dem Spiel. Doch auch das ist ihm nachrangig – wenn es hilft, das Bündnis zusammenzuhalten. Oder Europa wenigstens etwas Zeit zu verschaffen, seine eigene Verteidigung robuster aufzustellen.

von Florian Eder

4.

Gute Stimmung: Für Merz hat sich die Konzentration auf Außenpolitik – und eine klare Linie darin – offenbar ausgezahlt. Laut dem eben erschienenen Morgenbriefing zum neuen ZDF-Politbarometer kann er einen ungewöhnlich kräftigen Popularitätsschub verzeichnen. Deutlich über die Hälfte der Befragten bewertet seine Arbeit als gut.

Etwas Bewegung: Der Kanzler liegt damit nur knapp hinter dem Wert für die gesamte Bundesregierung. Auch CDU und CSU profitieren und können sich weiter von der AfD absetzen. Im linken Lager bewegt sich nichts.

5.

Nicht gewählt: Ein Plan der Linkspartei, der Union für die Legislatur einen Nasenring anzulegen, hat einen Rückschlag erlitten. Ihre Fraktionsvorsitzende Heidi Reichinnek wurde nicht in den Geheimdienst-Kontrollausschuss des Bundestags gewählt. Sie verfehlte die nötige Mehrheit von 316 Stimmen (wie auch die beiden AfD-Kandidaten). CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann hatte vor der Wahl Vorbehalte gegen Reichinnek geäußert.

Nur zu sechst: Daraufhin machte der Linken-Parteivorsitzende Jan van Aken, an die Union gewandt, ein weiteres Mal ein Junktim mit künftigem Abstimmungsverhalten in Fragen auf, die einer Zweidrittelmehrheit bedürfen. Von den Oppositionsparteien sind damit nur die Grünen im vorerst bloß sechsköpfigen Kontrollgremium vertreten, durch Konstantin von Notz. Den Vorsitz übernimmt der CDU-Abgeordnete Marc Henrichmann.

6.

Lebe Deinen Traum: Angedudelt in die Arbeit, von Kollegen heimgeschickt, aber mit Promille-Appetit um vier Uhr morgens wieder da und den Personenschutz zum Burgerholen geschickt – es ist schon um ein Vielfaches besser zu regieren, als es nicht zu tun.

Das ist die erste Lehre aus der Anekdote. Die zweite: Auch Robin Alexanders neues Buch „Letzte Chance“ klingt wieder vielversprechend.

Die Partei ist die Systemalternative zu uns. Wenn man das nicht versteht, wird man die AfD nie klein kriegen.

Cem Özdemir sieht Versuche als gescheitert an, die AfD in der parlamentarischen Arbeit zu stellen

Der Erfolg eines unbedingt linken Kandidaten irgendwo auf der Welt hat noch jedes Mal die Lebensgeister der SPD neu geweckt. Jetzt also Zohran Mamdani, 33, der den „demokratischen Sozialismus“ predigt – was für amerikanische Ohren noch deutlich radikaler klingt. Als demokratischer Kandidat für das Bürgermeisteramt in New York hat er das Establishment links überholt.

Die SPD neigt dazu, globale Linksverschiebungen auf ihre ganz eigenen Realitäten zu projizieren. Wenn in der Debatte bald staatlich betriebene Supermärkte, kostenfreie Busse und ein scharfer Mietendeckel auftauchen: Urheber Mamdani.

Bleibt zu hoffen, dass Genossen seine überaus einseitigen Nahost-Positionen nicht gleich mit übernehmen. Mit ihnen punktet er zwar bei Teilen der – oft israelkritischen – jüdischen Community in New York. Aber so viele Schichten und Wendungen hält die deutsche Debatte nicht aus: Das ist noch immer schiefgegangen.

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