Vor dem russischen Großangriff auf die Ukraine 2022 suchte die Nato noch nach ihrer Mission: Terrorismusbekämpfung? Krisenmanagement? Klimasicherheit? Mit der Invasion rückte die kollektive Verteidigung zurück ins Zentrum – strategisch, politisch, militärisch. Das Bündnis wirkte geschlossen, entschlossen, handlungsfähig. Doch der nächste Bruch droht von innen: aus Washington.
In dieser Woche treffen sich die Staats- und Regierungschefs zum Nato-Gipfel in Den Haag. Auf der Agenda steht eine neue Zielmarke: Fünf Prozent der Wirtschaftsleistung sollen künftig für Verteidigung aufgebracht werden – ein Teil davon für militärische Infrastruktur. Ob das ausreicht, damit Donald Trump die Allianz nicht länger als Versammlung von Trittbrettfahrern sieht?
Eine neue Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kommt zu einem ernüchternden Befund: „Die Nato befindet sich im Zangengriff zwischen der als akut wahrgenommenen äußeren Bedrohung durch Russland und der als nicht minder akut empfundenen inneren Gefährdung durch die US-Regierung.“ Trump könnte das Bündnis nicht nur lähmen – er könnte das Vertrauen unter seinen Mitgliedern zerstören.
Vertrauen ist die entscheidende Währung jeder Allianz. Es garantiert die Beistandszusage, schützt vor dem Gefühl, allein gelassen zu werden – auch davor, in fremde Kriege hineingezogen zu werden. Trumps Außenpolitik aber kennt keine Partner, sondern nur amerikanische Interessen. Wo Deals regieren, ist Vertrauen wenig wert.
Ein formeller Austritt der USA aus der Nato ist zwar unwahrscheinlich, allein das US-Recht macht es kompliziert – und dass Trump kein überzeugter Isolationist ist, wie manche fürchteten, haben die US-Angriffe auf iranische Atomanlagen vom Wochenende gezeigt. Sie haben auch belegt: Europäische Partner waren ahnungslos (und das galt nicht nur für den Bundesaußenminister).
In der Nato-Studie heißt es, „es bestehen wenig Zweifel, dass Trump auch ohne formalen Austritt die Mitgliedschaft praktisch beenden könnte“. Truppenabzug, Blockade im Nordatlantikrat, Sonderdeals mit Russland – alles ist denkbar, manches war bereits reale Drohung.
Trump steht für einen politischen Trend. Die Studie spricht von einem „längerfristig wirkenden“ Wandel – weg von globaler Ordnungspolitik, hin zu einer „Großmacht-Komplizenschaft im Einflusssphären-Konzert“. Die Studie beschreibt drei plausible Entwicklungspfade, was das für die Nato der Zukunft heißen könnte:
Transatlantische Nato minus eins: Die USA bleiben, aber ziehen sich zurück. Europa übernimmt mehr Verantwortung, zahlt mehr, hofft auf Reste amerikanischer Abschreckung. Doch: „Wenn das Interesse der USA so gering ist, dass sie sich nicht oder kaum mehr mit Truppen beteiligen, wird das nukleare Schutzversprechen unglaubwürdig.“
Europäische Verteidigungsunion: Europa organisiert die Sicherheit selbst. Ohne USA, dafür mit Mehrheitsentscheidungen – was einer politischen Revolution gleichkäme. Und einer teuren: mindestens 250 Milliarden Euro jährlich zusätzlich, rechnet das Kieler Institut für Weltwirtschaft.
Nato als Baukasten: Koalitionen der Willigen nutzen die militärische Infrastruktur des Bündnisses – aber ohne Führung, ohne strategische Klammer. Flexibel, aber fragil. „Allianzen ohne hegemoniale Führung“, so die Diagnose, „können Kooperationsprobleme weniger gut abfedern als die Nato, wie wir sie kennen.“
Die Analyse basiert auf einer umfassenden Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung („Die Zukunft der Nato“), die heute veröffentlicht wird. Sie erfasst die sicherheitspolitischen Debatten in elf ausgewählten Mitgliedsstaaten – darunter große Akteure wie die USA, Deutschland, Frankreich oder das Vereinigte Königreich, aber auch kleinere und neue Mitglieder wie Litauen, Finnland und Schweden.
Ziel der Untersuchung war es, die unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen und Erwartungen an die Allianz vergleichbar zu machen – entlang geografischer Lage, historischer Erfahrung und politischer Kultur. Denn: „Für eine konsensbasierte Organisation wie die Nato ist es von elementarer Bedeutung, die Sichtweisen aller Mitglieder zu verstehen – insbesondere, wenn die Allianz ohne die integrierende Wirkung eines wohlwollenden Hegemonen im Zentrum auskommen muss.“
Das Dilemma: Kompromissangebote an Washington – etwa durch Waffenkäufe in den USA – binden Trump womöglich kurzfristig ein, untergraben aber die dringend nötige europäische Rüstungsautonomie. Umgekehrt kann zu viel europäische Selbstbehauptung als Signal zur Abkehr gelesen werden: Europa steht vor Optionen, von denen jede auch das Gegenteil dessen bewirken kann, was sie bezweckt.
In Berlin setzt man – nicht ganz heimlich – auf Zeitgewinn, aufs Durchlavieren bis zur US-Zwischenwahl 2026, besser noch bis 2028. Der politische Reflex: Bloß nichts entscheiden, was man später bereuen könnte. Das ist riskant: Frankreich drängt auf Europas Autonomie unter dem Schutz der eigenen force de frappe, Polen investiert in nationale Fähigkeiten, Nord- und Osteuropa halten an der transatlantischen Nato fest – aber nicht blind.
Die Studienautoren halten fest: „Jede der sich abzeichnenden Veränderungen der Nato wird sehr kostspielig. Die Form dieser Veränderungen aber entscheidet sich maßgeblich in Washington.“ Die Botschaft dahinter: Sogar um sein eigenes Dilemma zu lösen, braucht Europa die USA – und Trump.