Digitalisierung soll den Zugang zu Verwaltungsleistungen vereinfachen. Klicken statt anstehen, Formular abschicken, statt Briefe versenden. Für Menschen mit Behinderungen sind digitale Anträge, PDF-Dokumente, Behörden-Websites oder Stadt-Apps aber eine Hürde und keine Vereinfachung. Keine einzige digitale Anwendung oder Webseite des öffentlichen Sektors ist vollständig barrierefrei, wie das offizielle Monitoring dazu zeigt.
Die EU hat 2016 eine Richtlinie über den barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen beschlossen. Bund und Länder müssen demnach alle drei Jahre an die EU den Stand der Barrierefreiheit öffentlicher IT-Angebote berichten. Im März hat die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT-Bund) den aktuellen Bericht veröffentlicht. SZ Dossier hat die Prüfergebnisse ausgewertet.
Der Vergleich mit vergangenen Jahren zeigt: Obwohl das Problem spätestens nach dem ersten Prüfbericht 2021 bekannt war, hat sich seitdem nichts Grundlegendes verbessert. Die Webseiten sind im Schnitt sogar schlechter bedienbar als noch vor vier Jahren. Der Bericht bezieht sich auf eine Stichprobe von 7239 Webauftritten und 269 mobilen Anwendungen.
Im Rahmen ihres Monitorings prüft die BFIT-Bund mindestens 25 Anforderungen: Es sind Erläuterungen in leichter Sprache und in Gebärdensprache nötig, Text und Bilder brauchen einen erhöhten Kontrast, alle Elemente einer Anwendung müssen über eine Tastatur steuerbar sein, nichts auf einer Seite darf öfter als dreimal hintereinander blitzen.
Wenn nur ein Button gegen eine Anforderung verstößt, gilt der ganze Webauftritt als nicht regelkonform. Klingt streng, ergibt aber aus Sicht der Betroffenen Sinn: Wenn sie ein einzelnes Element nicht benutzen können, etwa eine Navigationsleiste, dann können sie möglicherweise die Kernfunktion einer Website nicht nutzen. Wenn ein Feld in einem Formular sich nicht per Tastatur ansteuern lässt, dann können sie den Antrag nicht ausfüllen.
Zu den häufigsten Problemen zählen die sogenannten Nicht-Text-Inhalte, also etwa Symbole, Icons oder Bilder. Für solche Elemente müssen Website-Betreiber eigentlich eine Text-Alternative eintragen. Ein Screenreader würde dann anstelle eines kleinen Icons mit einem „i“ vorlesen: „Weitere Informationen anzeigen.“ Solche Beschreibungen fehlen offenbar oft. Diese Liste der Mängel ließe sich lange fortführen.
„Die Probleme sind vielschichtig und durchgängig. Deshalb sollte man hier nicht von den größten Problemen sprechen, sondern von einem einzigen großen Problem“, so Markus Ertl, Projektleiter für die Durchsetzung digitaler Barrierefreiheit beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV). Zum Beispiel habe die Ausweis-App, also ein zentraler Zugangspunkt zur digitalen Verwaltung, noch zu viele Barrieren.
Dass das Thema nicht ganz oben auf der Aufgabenliste von Bund, Ländern und Kommunen steht, könnte auch an fehlenden Sanktionen liegen. Strafen sieht das Gesetz nämlich nicht vor. Es bietet lediglich Betroffenen die Möglichkeit, sich zu beschweren oder zu klagen – je nach Zuständigkeit, auf Landes- oder Bundesebene.
Für den privaten Sektor sieht das anders aus. Hier drohen Sanktionen, es können sogar Produkte oder Dienstleistungen vom Markt genommen werden, wenn Vorgaben nicht erfüllt werden. Grundlage ist das neue Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, das ab Ende Juni gilt.
Bei der Schlichtungsstelle auf Bundesebene, angesiedelt bei der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, sind im vergangenen Jahr 330 Anträge eingegangen. Davon betrafen 24 die digitale Barrierefreiheit, teilte die Stelle SZ Dossier auf Anfrage mit.
„Digitale Barrierefreiheit ist ein Ziel, nach dem alle streben sollten, das aber nie vollständig erreicht werden kann“, sagte Basanta Thapa, Geschäftsführer des Kompetenznetzwerks Digitale Verwaltung. Er hat 2021 eine Studie zu digitaler Barrierefreiheit im öffentlichen Sektor veröffentlicht. Die Probleme, die er damals identifiziert hat, bestehen immer noch.
Als mögliche Gründe für die andauernden Mängel führte der Bericht der BFIT-Bund an, dass größere Maßnahmen wie der Relaunch einer Website länger dauern. Gerade kleineren Behörden wie Kommunen oder Schulen fehlt demnach rechtliches und technisches Wissen rund um die teilweise komplexen Auflagen – manchmal fehle aber auch noch das Bewusstsein dafür, wie wichtig digitale Barrierefreiheit sei.
Gerade die lokale Ebene ist aber meist die erste Anlaufstelle für Verwaltungsleistungen. Das macht sie besonders wichtig, aber auch besonders kompliziert. „Die meiste Bürgerinteraktion passiert im Lokalen. Auf den Kommunalwebseiten gibt es viel mehr Online-Formulare als auf denen des Bundes“, sagte Thapa. Auch der Betrieb ist komplexer. „Webseiten von Ministerien werden größtenteils zentral von einer Agentur befüllt. Im Kommunalen tragen auch einzelne Sachbearbeiter Informationen ein – da wird schneller mal eine Bildbeschreibung vergessen.“
Doch laut Thapa muss digitale Verwaltung eigentlich keine abgefahrene Multimedia-Erfahrung bieten: „Simple Texte schwarz auf weiß und standardisierte Formulare sind eigentlich nicht schwer, barrierefrei zu gestalten.“
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