Als Christian Lindner das Rednerpult verlässt, steht der FDP-Parteitag minutenlang. Der Applaus will nicht enden. Und doch liegt über allem der Schatten des 23. Februar. Jenem Tag, an dem die Freien Demokraten aus dem Bundestag flogen. Im Neuköllner Hotel Estrel sollte am Wochenende der liberale Neustart beginnen. Doch auch nach zwei Tagen, einer vierstündigen Aussprache mit 77 Beiträgen und einer personellen Neuaufstellung bleibt unklar, wohin die FDP will.
Schon im Grußwort setzt der scheidende FDP-Vize Johannes Vogel den Ton. Er spricht von einem „existenzbedrohenden Einschnitt“. Die Liberalen müssten beginnen, sich zu fragen, „was wir tun können, dass die Menschen uns wieder vertrauen“, sagt er. Dafür könne es noch keine abschließenden Antworten geben – man müsse aber als Partei der Eigenverantwortung „ehrlich in den Spiegel“ schauen. Und das Team wählen, das diesen Prozess leitet. Seine dringlichste Mahnung: Die Parteimitglieder dürften sich nicht spalten lassen.
Der emotionale Höhepunkt ist Lindners Abschiedsrede als Parteivorsitzender am Freitag. „Mein liberales Herz will eigentlich schon wieder losstürmen“, sagt er. Lindner wird persönlich, bedankt sich bei seiner Frau: „Du musstest das Leben eines Politikers mitführen, obwohl du mich geheiratet hast und nicht die FDP“, sagt er. „Das bedeutet mir alles und das werde ich nie vergessen.“ Doch während Lindner betont, man solle sich nicht gegenseitig erklären, was wahrer Liberalismus sei, ist es genau das, worüber auf dem Parteitag gestritten wird.
Die Aussprache zeichnet das Bild einer Partei, deren einziger gemeinsamer Nenner derzeit die Freiheit ist. „Das gerüchteweise Reden von der bedrohten Meinungsfreiheit ist Teil eines rechten Kulturkampfes“, sagt jemand. Ein anderer hat Angst vor staatlicher Zensur und Wahrheitsministerien. Eine Delegierte kritisiert die Schuldenbremse, ein Delegierter bekennt sich zur Schuldenbremse. Viele wollen den Staat verschlanken. „Keiner braucht eine Partei, die sich auf Bitcoin-Bros und Kettensägen konzentriert“, sagt ein anderer Redner.
Die Partei war schon immer vielfältig, eine Ansammlung von Individualisten. Genau das haben sie in der FDP stets als Stärke verstanden. Doch gleichzeitig droht ein Auseinanderdriften, der liberale Markenkern verwässert. „Wir müssen zurückkommen zu einem Mannschaftsgeist“, fordert ein Delegierter. Der ehemalige Abgeordnete Konstantin Kuhle warnt in seiner Rede vor einer FDP, die zur Protestpartei wird, „die jedes Mal zusammenbricht, wenn sie in Kontakt mit der Realität kommt“.
Ein Mann soll diese Strömungen nun zusammenführen: Christian Dürr. Der neue Vorsitzende und ehemalige Fraktionschef knüpft rhetorisch und inhaltlich an Lindner an. Er beschwört das Individuum und die Freiheit. Über Fehler in der Ampel oder gar Selbstkritik verlieren beide Christians kein Wort. Die FDP, sagt Dürr, stehe nicht am Ende, sondern am Anfang. Doch programmatisch bleiben vor allem offene Fragen. Antworten liefern soll ein neues Grundsatzprogramm, das der Parteitag beschließen wird. Dürrs Arbeitstitel: „Freiheit konkret.“
Er will aber nicht nur ein neues Grundsatzprogramm, sondern auch strukturelle Reformen in der Partei. Dürr ist davon überzeugt, dass die Liberalen wieder eigene Ideen brauchen: „Da müssen wir mehr Gehirnschmalz reinstecken“, sagt er. „Wir sollten da nicht zu denkfaul sein.“ Seine Rede schließt er nicht umsonst mit dem FDP-Klassiker Aktienrente.
„Ich sehe, dass Liberale dann erfolgreich sind, wenn sie eine klare Haltung haben und ein eigenes Angebot haben“, sagt dann auch Europapolitikerin Svenja Hahn, die als stellvertretende Vorsitzende kandidiert. „Wir sollten uns angucken, was wir von anderen Parteien lernen können“, fordert sie. Auch Hahn glaubt, dass der Neustart nur als Team gelingt. Das neue Führungsteam besteht unter anderem aus den weiteren Stellvertretern Wolfgang Kubicki und Henning Höne, dem nordrhein-westfälischen FDP-Chef.
Und aus der neuen Generalsekretärin Nicole Büttner. Die Unternehmerin und Gründerin betont in ihrer Vorstellungsrede am Samstag die Zukunft: „Müssen wir nicht endlich eine Richtung, einen Nordstern, definieren?“, fragt sie. Also eine große Vision für die Partei – der Begriff stammt aus der Startup-Welt. „Wie sieht unser Geschäftsmodell 2030-2035 aus?“ Die Niederlage habe wehgetan, die FDP müsse aber nun die richtigen Schritte treffen. „Niemand wählt uns, weil wir früher gut waren“, mahnt Büttner. „Wir werden nur gewählt, wenn wir rasch zeigen, dass wir liefern wollen und liefern werden.“
Dass der Generationenwechsel mehr sein könnte als Symbolik, zeigt sich an einer Personalie, die Büttners Rede fast in den Schatten stellt. Bei der Wahl für die Beisitzer im Präsidium gewinnt Susanne Seehofer – die bundespolitisch bislang unbekannte 34-jährige Tochter von Horst Seehofer – mit nur sieben Stimmen Vorsprung bei einer Kampfkandidatur gegen die Landesministerin Daniela Schmitt. Später wird es der umstrittene Thüringer Landesvorsitzende Thomas Kemmerich nicht erneut in den Parteivorstand schaffen. Auch daran lässt sich etwas ablesen.
„Die letzten Wahlen haben gezeigt: Es sind gerade die jungen Menschen, die wir wieder von uns überzeugen müssen“, sagte Seehofer in ihrer Vorstellung. „Wir fordern zu Recht mehr Disruption in Staat, in Wirtschaft, aber dann müssen wir doch auch selbst dazu bereit sein.“ Den Wettbewerb dürfe man nicht nur fordern, man müsse ihn ganz selbstbewusst leben. Das ist Seehofer gelungen. Ob es ihrer Partei auch gelingt, wird sich bald zeigen: Die FDP muss im März ran, bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Gabriel Rinaldi