Prozesse radikal umstrukturieren oder gar abschaffen, statt sie aufwändig zu digitalisieren – so weit reicht der Mut bei der Staatsmodernisierung in Deutschland oft nicht. Anders in Österreich. Roland Ledinger, Chef des österreichischen Bundesrechenzentrums (BRZ), sprach mit SZ Dossier darüber, was Deutschland vom Nachbarn lernen kann.
Beispiel 1 – Kfz-Zulassung: Während Bund und Länder in Deutschland in den vergangenen Jahre einen Online-Service für das An-, Um- und Abmelden von Kraftfahrzeugen entwickelten („i-Kfz“), hat Österreich vor mehr als 20 Jahren alle staatlichen Zulassungsstellen abgeschafft. Die Idee dahinter: Wer mit dem Auto fahren will, schließt eine Versicherung ab – weil die Bürgerinnen und Bürger bei den Versicherungen ohnehin alle ihre Daten angeben, läuft die Zulassung von Fahrzeugen über die Maklerinnen und Makler.
Win-win-Situation: Die Versicherer bekommen seitdem einen Teil der Anmeldegebühren erstattet, der Staat spart Geld. „Das Zulassungsregister wird von Versicherungsmaklern gepflegt, die direkten Zugriff darauf haben“, sagte Ledinger. „Zudem haben sie Zugriff auf das Melde- und Adressregister, um zu kontrollieren, ob die angegebene Adresse existiert.“ Die Versicherer übergeben auch die Kennzeichen. „An keinem Punkt in dem Prozess hat ein Beamter Arbeit“, sagte Ledinger.
Beispiel 2 – Führerscheinantrag: Das Führerscheinregister, in dem vermerkt ist, wer mit welchen Fahrzeugen fahren darf, wird seit 2006 ebenfalls nicht mehr ausschließlich behördlich gepflegt. Die Daten kommen auch von den Fahrschulen. Sie wissen ohnehin, wer die Prüfung bestanden hat und wer nicht, und sind gesetzlich dazu verpflichtet, auch die nötigen Nachweise einzuspielen. Sind die Daten übermittelt, „wird die Scheckkarte automatisch per Post versandt“, sagte Ledinger.
Beispiel 3 – Services rund um die Geburt: „Bei der Geburt eines Kindes werden behördliche Meldungen automatisch durch die Krankenhäuser ausgelöst“, sagte Ledinger. Die Eltern müssten auf dem Handy nun über die 2019 gestartete App „Digitales Amt“ einen Namen für das Kind vergeben. „Wenn sie nachhause kommen, haben sie bereits die Geburtsurkunde, die Sozialversicherungsnummer und die Meldebescheinigung im Postfach – entweder auf Papier oder im elektronischen Postfach.“ Dafür nötig sind lediglich die staatliche elektronische Identität („ID Austria“), eine österreichische Staatsbürgerschaft sowie vorhandene Daten im Zentralen Personenstandsregister.
Beispiel 4 – Kindergeld: Die österreichische Familienbeihilfe, das Pendant zum deutschen Kindergeld, wird seit acht Jahren vollständig automatisiert ausgezahlt. Der Staat kenne die Namen der Eltern und die Kontodaten und weiß, dass ein Kind geboren wurde. „Also überweisen wir automatisiert das Geld“, sagte Ledinger. „Niemand muss ein Formular ausfüllen oder bearbeiten.“
Erfolgsfaktoren: Österreich stehe bei der Verwaltungsdigitalisierung in vielen Bereichen besser als Deutschland da, weil bereits Ende der 90er-Jahre Kooperationsvereinbarungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen geschlossen wurden, so Ledinger. Auch bundesweit einheitliche Formularstrukturen seien vor mehr als 20 Jahren entwickelt worden. Zudem: „Wir haben uns früh um die Infrastruktur wie vernetzte Register oder eine elektronische Identität gekümmert, früh den Online-Zugang bundesweit harmonisiert und dann auch damit begonnen, das Backend zu digitalisieren“, sagte Ledinger.
Ebenfalls wichtig sei es gewesen, dass zentrale Register aufgebaut wurden. Meldedaten gehörten in Österreich zwar weiterhin den kommunalen Meldebehörden. „Wir haben uns jedoch darauf geeinigt, dass jeder lokale Eintrag direkt auch zentral gespeichert und gespiegelt wird“, sagte Ledinger.
Lektionen für die Bundesrepublik: Deutschland habe spät damit begonnen, das Fundament für den digitalen Staat zu legen, so Ledinger. „Dann kam der Druck, etwas vorzuzeigen und daher hat man sich auf das Frontend, also die Online-Services, konzentriert.“ Allerdings: „Wer nur die Fassade renoviert, hat noch keine gute Bausubstanz.“
Die Konsequenz: eine zersplitterte Register- und Dateninfrastruktur, die dazu führe, dass Prozesse gar nicht so einfach auf Dritte übertragen werden können – wie etwa im Kfz-Bereich in Österreich. Denn die Versicherungsmakler müssten nachsehen können, „ob es die Person überhaupt gibt und ob sie gemeldet ist“. Dazu brauche es einen zentralen Zugang. „Wenn ich tausende Kommunen abfragen muss, kann das nicht funktionieren.“
Wichtig auch: Mut zur Lücke. Als in Österreich die Auszahlung der Familienbeihilfe automatisiert wurde, hatte der Staat nicht alle Kontodaten. Der zuständige Minister habe aber entschieden, „dass wir nicht wegen 200 solcher Fälle bei den restlichen 70 000 Geburten das Geld nicht auszahlen, obwohl es sofort möglich wäre“, sagte Ledinger. Die Behörden haben die entsprechenden Personen angeschrieben und nach der Kontonummer gefragt. Wer nichts übermittelt hat, hat kein Geld bekommen. „Wer auf die 100-Prozent-Lösung wartet, bekommt gar keine Lösung“, sagte Ledinger. „Dann lässt man zu, dass wenige Spezialfälle verhindern, dass es für einen Großteil der Gesellschaft besser wird.“ Matthias Punz
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