Alice Weidel hat ihre Rede gerade begonnen, da muss sie schon vom Plan abweichen. Ein Fotograf versperrt den Fernsehkameras in seinem Rücken die freie Sicht aufs Podium. Weidel wendet sich ans Publikum, fragt, ob jeder seinen Platz habe. „Sie müssen sich nicht schlagen da hinten“, sagt sie. Dann fährt sie fort: Steuern runter, zurück zur Kernkraft, Grenzen dicht. AfD-Klassiker.
Viel Zeit verwendet Weidel am Samstagvormittag dafür, um über Wirtschaft zu sprechen. Das passt natürlich zur promovierten Ökonomin. Es soll jetzt ihre Show werden, ihr Wahlkampf. Die Spitze der AfD hat sie gerade einstimmig als Kanzlerkandidatin für die Bundestagswahl nominiert. Offiziell muss das zwar noch der Bundesparteitag in Riesa beschließen, das gilt allerdings als ausgemacht.
Zum ersten Mal in ihrer Geschichte schickt die AfD damit eine Kanzlerkandidatin ins Rennen. Der Titel ist zwar mehr Anspruch als Wirklichkeit, koalieren will mit der in Teilen rechtsextremen Partei schließlich niemand. Und doch ist es ein weiterer Schritt für die AfD – und besonders für die Kandidatin selbst. Das, was jetzt auf sie zukommt, bezeichnet der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder von der Universität Kassel als „Chancenwahlkampf“. Mit einem guten Wahlkampf und einem guten Ergebnis könne die AfD-Chefin ihre Machtbasis innerhalb der Partei ausbauen, mittelfristig „unangreifbar“ werden, sagt Schroeder. „Die Bundestagswahl könnte Weidels Inthronisierung werden in Richtung einer Weidelisierung der AfD.“
Dann stellt sich allerdings die Frage, was aus Tino Chrupalla wird. Weidel sagt am Samstag, sie und Chrupalla werden auch die nächste Bundestagsfraktion anführen. Innerhalb der AfD gibt es aber längst eine Debatte darüber, die Parteiführung zukünftig anders aufzustellen: mit einem Generalsekretär und nur noch einer Person an der Spitze. Schneidet die AfD unter Weidel bei der Bundestagswahl gut ab, festigt das ihre Position in einem künftigen Duell um die Spitze. Auf der Bühne in Berlin geben sich die beiden allerdings vertraut, Chrupalla bezeichnet Weidel als „Stürmerin“, die „so viele Tore wie möglich“ erzielen solle. Er selbst sei der „Libero“.
Dass Weidel nun an der Spitze steht, ist auch das Ergebnis ihrer Machtpolitik. „Weidel ist bereit, ihre Person und Reputation in den Dienst des völkischen Flügels zu stellen“, sagt Politikwissenschaftler Schroeder. Das bedeute nicht, dass sie vor diesem Lager grundsätzlich kapituliere, vielmehr habe sie die Vorstellung, den Wettstreit auf lange Sicht gewinnen zu können, sagt Schroeder, „zugunsten einer Koalitionsperspektive“.
Dazu, so schwebt es einigen in der Partei vor, soll es 2029 kommen. Die übernächste Bundestagswahl gilt in der AfD als Fernziel, um entweder in eine Koalition einzutreten oder zumindest so stark zu werden, dass es zu einer Minderheitsregierung kommt, die die AfD dann tolerieren könnte, heißt es am Samstag von einem aus dem Bundesvorstand. Die kommende Wahl ist in dieser Lesart ein Zwischenschritt, um die AfD in der Fläche weiter aufzubauen. Schließlich stünden ihr bei gutem Abschneiden deutlich mehr Abgeordnete zur Verfügung.
Als Hauptgegner im kommenden Wahlkampf sieht die AfD die „rot-grünen-Transformationsvisionen und das damit verbundene Menschen- und Weltbild“. So steht es in einem internen Strategiepapier. Im direkten Kampf um Wählerstimmen hat sie aber CDU und BSW als ärgste Konkurrenten ausgemacht. Umgerechnet auf die Sonntagsfrage könne sie von der Union sechs, vom BSW drei und von der SPD ein Prozent gewinnen, heißt es in dem Papier. Umgekehrt könnte sich der Analyse zufolge unter AfD-Wählern aber auch gut ein Fünftel (21 Prozent) vorstellen, das BSW zu wählen.
Was die Art der Kampagne anbelangt, werde man den „Volksfestcharakter“, den Veranstaltungen etwa während des Landtagswahlkampfes in Brandenburg hatten, bei der Bundestagswahl beibehalten, sagt einer aus dem Bundesvorstand, auch bei Indoor-Veranstaltungen. Außerdem habe Social Media „absolute Priorität“. Mit gut sechs Millionen Euro Wahlkampfbudget plant die AfD. Etwa ein Viertel davon will sie für Social Media ausgeben, sagt Bundesschatzmeister Carsten Hütter.
In ihrer Bundesgeschäftsstelle hat die AfD – ganz analog – ihre Wahlplakate vor die Fensterscheiben montiert. „Zeit für Frieden“, steht darauf, „Zeit für die Wende“. Der Hauptslogan lautet: „Zeit für Deutschland“. Zeit hat Alice Weidel dann aber plötzlich nicht mehr. Ein Reporter fragt sie, wie es zusammenpasse, dass sie selbst in der Schweiz lebe, ihre Partei aber „Zeit für Deutschland“ plakatiere. Weidel sagt, sie lebe nicht in der Schweiz, habe dort aber einen ihrer beiden Wohnsitze. „Vielleicht hab' ich auch mehrere“, sagt sie. Dann erinnert sie den Pressereferenten der Partei daran, dass „wir hier unter Zeitdruck sind“. Nicht viel Raum für Fragen also. Es soll nichts schiefgehen bei ihrer Show.