Selbst Selenskijs beste Argumente nutzen sich ab
Selbst mit Wladimir Putin und Donald Trump am Tisch: Vom Ukraine-Gipfel in Istanbul wäre kaum eine Entscheidung über Krieg und Frieden ausgegangen, sagt der ukrainische Analyst und Sicherheitsexperte Mykola Bielieskov. Was er von den Gesprächen in der Türkei erwartet? „Ehrlich gesagt – nicht viel. Es ist vor allem ein symbolischer Akt. Für uns in der Ukraine geht es darum, nicht als Verweigerer dazustehen“, sagte er SZ Dossier. „Wir kennen dieses Ritual: Man inszeniert etwas, um niemanden zu verärgern – besonders Trump nicht. Wir tanzen einen politischen Tanz, um nicht zum Sündenbock zu werden.“
Das ist die ukrainische Realität im vierten Jahr des großen Kriegs gegen das Land, und es ist das politische Handwerk, das Präsident Wolodimir Selenskij ausüben muss. „Putin macht mit, weil er glaubt, dass es für ihn folgenlos bleibt, wenn alles scheitert“, sagte Bielieskov diese Woche im Interview in unserer Redaktion. „Die eigentliche Entscheidung über Verhandlungen fällt nicht auf Konferenzen – sondern auf dem Schlachtfeld, zwischen Mai und September.“
Bielieskov ist Senior Fellow am Nationalen Institut für Strategische Studien der Ukraine und leitender Analyst der Stiftung Come Back Alive – und einer jener ukrainischen Experten, die den eigenen Präsidenten nicht schonen. Selenskyj hatte lange ein Gespür für Worte, für Tonalität, für das richtige Publikum. Ist es nur der Eindruck von außen, oder hat sich das erschöpft? „Nein, das ist nicht nur Ihr Eindruck“, sagte er. „Ich habe diese Sorge schon seit über einem Jahr. Unsere Strategie beruhte zu sehr auf Überzeugungskraft. Und jedes Argument nutzt sich ab.“
Warum die Ukraine jede Unterstützung verdient, wird im Land und im Westen in vier Punkten durchargumentiert: Erstens der negative Präzedenzfall, falls Russland erfolgreich ist. Zweitens ein Dominoeffekt – wenn die Ukraine fällt, geraten andere Staaten in Mittel- und Osteuropa ebenfalls unter Druck. Drittens: die ökonomische Logik, nach der es günstiger ist, die Ukraine zu unterstützen, als Russland direkt entgegentreten zu müssen. Viertens: die Glaubwürdigkeit des Westens.
Aber: „Je öfter man dieselben Argumente dreht und wendet, desto weniger wirken sie“, sagte Bielieskov. „Selbst bei Ländern wie Polen, die einst alles geliefert haben, sehen wir nun Zurückhaltung. Sie sagen nicht offen: Wir zweifeln an Eurem Erfolg – aber sie verhalten sich entsprechend.“ Das hat unmittelbar, wie alle Fragen europäischer Sicherheit, mit der Haltung Amerikas zu tun. „Ich glaube nicht, dass wir Trump überzeugen können. Vielleicht Teile seines Umfelds“, sagte Bielieskov.
Das Foto in Rom, im Petersdom, wo Trump und Selenskij Zwiegespräch hielten? „Die Tatsache, dass jetzt sowohl Russland als auch die Ukraine gleichermaßen kritisiert werden, hat mehr mit dem Stimmungsumschwung im Trump-Lager zu tun als mit einem einzelnen Treffen in Rom oder sonstwo“, sagte er. „Trump hat erkannt, dass der Krieg nicht so einfach zu lösen ist, wie er gehofft hatte – aber er wird das nie öffentlich zugeben. Es widerspricht seiner Ideologie. In seinem Weltbild gehören Ukraine-Skepsis und Europa-Distanz einfach dazu.“
Die Europäer haben am Wochenende auch machtvolle Bilder produziert, mit dem gemeinsamen Besuch in Kyiv. „Aber: Danach muss man fragen – wo ist das konkrete Bekenntnis?“, sagte Bielieskov. „In diesem Krieg ist die Rhetorik oft ambitionierter als das tatsächliche Engagement.“ Was er vermisst: ein langfristiges Finanzierungsversprechen. „Das hätte viel stärkere Wirkung auf den Kreml gehabt.“ So bleibt es bei Bildern und Worten, die als Botschaft an Putin nicht genügen könnten, fürchtet der Analyst. „Wir hängen zu sehr an äußeren Inszenierungen“, sagte er. „Dabei verändert sich der Kriegsverlauf nicht durch Bilder oder große Worte.“
„Dieser Krieg wird über Ressourcen, Zeit und psychologische Widerstandsfähigkeit entschieden – nicht über Symbolpolitik“, sagte Bielieskov. Russlands Krieg zielt auf Abnutzung, Erschöpfung des Gegners, Aushöhlung der Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Gesellschaft. Und auf die Botschaft an den Westen: Unterstützung für Kyiv ist sinnlos vertanes Geld. In den USA verfängt das teilweise schon – „und das ermutigt Russland, europäische Länder einzeln unter Druck zu setzen“.
Was er über Friedrich Merz denkt: „Man spürt, dass Deutschland die Risiken erkennt, die aus den USA drohen – und sich europäisch aufstellt“, sagte Bielieskov. Die Äußerungen, man werde die Ukraine nicht allein lassen und betrachte sie als Teil der eigenen Sicherheit, „sind ermutigend“. Aus ukrainischer Sicht stellt sich vor allem die Frage, ob die CDU aus den Merkel-Jahren – oder was Bielieskov „Anti-Ukraine-Politik“ nennt – gelernt hat. „In der Opposition zu kritisieren ist einfach – aber jetzt wird die Partei an ihren eigenen Entscheidungen gemessen werden.“
Friedrich Merz müht sich nach Kräften um europäische Einheit. Es könnte es kommende Woche zu einer Sitzung des Europäischen Rates kommen, auf der die großen Mitgliedstaaten über ihre diplomatischen Initiativen zur Ukraine informieren, sagte er im ZDF.
Aber stellen sich konkrete Fragen auch an Deutschland: „Wie viel wird in Verteidigung investiert? Welche Initiativen werden unterstützt? Wie langfristig ist die Ukraine-Hilfe gedacht?“ Was er sich nicht fragt: Ob der Taurus kommt. Diese Frage „wurde überhöht – in Wahrheit zählt langfristige, verlässliche Unterstützung mehr als einzelne Waffensysteme“, sagte er. Auch das ist kaum eine neue Erkenntnis, weder in der Ukraine noch in Deutschland und Europa. „Die Interessen liegen offen – wo sie sich überschneiden, wo nicht“, sagte Bielieskov.
„Alle verstehen, warum es richtig ist, die Ukraine zu unterstützen – aber es scheitert am politischen Willen, es auch durchzuziehen. Jeder hat Angst vor der innenpolitischen Debatte, vor den Kosten, vor der Mobilisierung“, sagte er. Russland habe da einen zynischen Vorteil. Bielieskov: „Der russisch-ukrainische Krieg zeigt, wie schwer Strategie und Kriegsführung für postmoderne Demokratien geworden sind.“