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Tiefgang

Der Linkspartei gelingt ein halber Neustart

Friedensbewegte treffen auf intersektionale Feministinnen, Alt-Linke auf propalästinensische Aktivistinnen mit Kufiya: soweit also alles beim Alten bei der Linken. Und doch steht der Parteitag in Chemnitz unter dem Motto des Neuanfangs. Nach dem überraschenden Wahlerfolg der Partei bei der vorgezogenen Bundestagswahl geht es nun daran, zu definieren, wer was macht und wo es hingehen soll. Die Euphorie nach der Wahl soll jetzt in eine neue politische Richtung gegossen werden, deshalb prangt in der Messehalle in Chemnitz der Slogan „Die Hoffnung organisieren“ an der Rückwand der Bühne.

Eine „moderne sozialistische Klassenpartei“ will die Linke sein und dabei eben alle Linken-Mitglieder und Wählerinnen und Wähler, alte und neue, mitnehmen, sagte Co-Parteivorsitzende Ines Schwerdtner am Rande des Parteitags SZ Dossier. Doch die Linke muss den Begriff der Klasse erst noch einmal neu definieren.

Zum Erfolg bei der Wahl im Februar verhalf insbesondere die junge, urbane Klientel. Mit einem Altersdurchschnitt von 42,2 Jahren ist die Linke die jüngste Fraktion im Bundestag und mit 56,2 Prozent Frauen auch die weiblichste. Insbesondere die jungen Frauen gaben der nach dem Bruch mit Sahra Wagenknecht personell neu aufgestellten Partei ihre Stimme.

Sie fühlen sich offensichtlich insbesondere von den beiden Führungspersönlichkeiten Heidi Reichinnek (37) und Ines Schwerdtner (35) repräsentiert. Jetzt gilt es, das wird in Chemnitz klar, neben Parteiveteranen auch junge, queere, migrantische Wählerinnen und Wähler in die Klassendebatte einzuführen und in Parteistrukturen einzubinden.

Wie das aussehen soll, zeigt der Parteitag. Früher hörte man Georg Kreisler auf der Klampfe, heute rappt ein queerfeministisches Duo über den Bruch mit bürgerlichen Normen. Der Parteivorsitzende Jan van Aken regt am Samstag an, die Sache so anzugehen: „Die Partei darf sich nicht spalten lassen. Die Grenze verläuft immer von oben nach unten, die Grenze verläuft nicht zwischen Kuh- und Hafermilchtrinkern.“

Viele der Neumitglieder müssen sich erst noch in Aufgaben von Gremien und Arbeitsgruppen und die teilweise zähen Abläufe im politischen Betrieb einfinden. Mit neuen Mitgliedern kommen neue Impulse, aber auch neue Anlässe für alten Streit: die Haltung zur Aufrüstung, die Wehrpflicht, den Nahostkonflikt. Die Parteiführung versucht, die Einigkeit aus dem Wahlkampf in die neue Zeit hinüberzuretten.

„Wir stehen in der Verantwortung, eine lernende, eine andere Partei zu sein“, sagte Schwerdtner. Einen Tag vorher, am Freitag, sagte sie: Es gehe nicht darum, keine Fehler mehr zu machen oder nicht zu streiten. „Aber es geht darum, eine Politik zu machen, die uns nicht zerreißt, deshalb lasst uns bitte solidarisch sein.“ Reichinnek proklamierte: „Wir lassen uns nicht spalten, uns eint mehr, als uns trennt. Wir sind nicht aufzuhalten, wenn wir uns zusammenschließen.“

Kurz vor Schluss, am Samstagnachmittag, zeigt sich, dass der Umgang der Partei mit ihrer Positionierung zum Nahostkonflikt immer wieder den Sprengstoff birgt, der die Partei wieder spalten könnte. Schwerdtner und van Aken wurden zwar nicht müde zu betonen, dass der Beschluss der Partei aus Halle Bestand habe, wonach das Existenzrecht Israels „für uns nicht verhandelbar“ sei.

Doch in Chemnitz stimmte eine knappe Mehrheit (213 zu 181) der Delegierten für einen Antrag der Berliner Landesgruppe, der fordert, dass deutsche Behörden die „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) durch die sogenannte Jerusalemer Erklärung ersetzen sollen. Laut dieser Definition ist auch die BDS-Bewegung, die Israel boykottieren will, nicht zwingend antisemitisch. In Deutschland gilt die Bewegung aber genau als das, der Verfassungsschutz beobachtet sie als „extremistischen Verdachtsfall“.

Dabei hatte Parteichefin Schwerdtner noch am Mittag im Gespräch mit SZ Dossier klargemacht: „Alle, die eine andere Meinung vertreten als der Parteivorstand – was in Ordnung ist – müssen wissen, dass sie dann nicht mehr für die Partei sprechen.“ Und so wird am Ende des zweitägigen Parteitags deutlich: Die Hoffnung und Euphorie für den Neuanfang sind ungebrochen – die alten Probleme aber auch. Elena Müller