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Tiefgang

Wie europäische Abschreckung bis 2030 gelingen soll

Es ist ein Klassiker der Sicherheitspolitik, der an den Anfang der neuen europäischen Verteidigungsstrategie gestellt wurde: „Der einzige Weg, wie wir den Frieden sichern können, ist die Bereitschaft, diejenigen abzuschrecken, die uns Schaden zufügen wollen“, heißt es gleich im ersten Absatz des Dokuments.

Si vis pacem para bellum: Damit beschreiben die Autorinnen und Autoren nicht nur die Grundzüge der militärischen Abschreckung, der Satz erinnert auch an das lateinische Sprichwort. „Wenn Europa Krieg vermeiden will, muss es bereit sein für Krieg“, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen passenderweise am Dienstag. Der Tenor: Die Sicherheitsarchitektur, auf die sich der alte Kontinent verlassen hat, ist nicht mehr selbstverständlich.

Deshalb hat die EU-Kommission gestern ihre Pläne vorgestellt, mit denen sie die Verteidigung Europas stärken will. Das Weißbuch zur europäischen Verteidigung soll auf 23 Seiten Orientierung bieten und skizziert dabei die strategische Vision, die den Kontinent verteidigungsfähig machen soll.

Das wichtigste Ziel steht im Titel: 2030 soll Europa in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen. Es ist ungefähr der Zeithorizont, für den Geheimdienste einen potenziellen russischen Angriff auf Nato-Territorium als realistisch ansehen. „Russland wird auf absehbare Zeit eine fundamentale Bedrohung für die Sicherheit Europas bleiben“, heißt es im Weißbuch. Und die Vereinigten Staaten seien zwar „traditionell ein enger Partner“, wollten aber ihre Rolle als „primärer Sicherheitsgarant“ herunterfahren.

Auffällig ist, dass im Papier vor allem von konventioneller Verteidigung gesprochen wird: nukleare Abschreckung taucht nicht auf. Ein Grund könnte sein, dass sich die EU vor allem als Rahmengeber verstehen will. Solche Details, etwa die Debatte um einen europäischen atomaren Schutzschirm, müssen die Mitgliedsstaaten schon selbst regeln. „Die Mitgliedstaaten sitzen auf dem Fahrersitz, das ist eine Frage der nationalen Souveränität“, sagte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas.

Mit dem Weißbuch will die EU-Kommission den Rahmen neu setzen: So geht es etwa um militärische Fähigkeitslücken, die es gemeinsam zu schließen gilt. Und entsprechende Finanzierungsmechanismen, um die europäischen Regierungen zu unterstützen. „Der Wiederaufbau der europäischen Verteidigung erfordert massive, über einen längeren Zeitraum hinweg sowohl öffentliche als auch private Investitionen“, heißt es im Papier.

Das Herz der Strategie ist der EU-Fonds Security Action for Europe (SAFE) im Umfang von 150 Milliarden Euro. Gemeinsame Schulden wird es aber vorerst nicht geben, die 150 Milliarden will die Kommission „durch den Kapitalmarkt mobilisieren“, wie es eine Kommissionsbeamtin formulierte. Heißt konkret: Darlehen, abgesichert mit EU-Haushaltsmitteln. Von der Leyen hatte vor wenigen Wochen einen gemeinsamen Wehretat in Höhe von bis zu 800 Milliarden Euro ins Spiel gebracht. Um auf diese Zahl zu kommen, soll die europäische „Schuldenbremse“ gelockert werden.

Die Mitgliedsstaaten sollen dank einer nationalen Ausstiegsklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts der EU weiteren finanziellen Spielraum erhalten: Sie dürfen für Verteidigungsausgaben für eine Dauer von bis zu vier Jahren und womöglich noch länger bis zu 1,5 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für die Verteidigung ausgeben, ohne gegen die europäischen Schuldenregeln zu verstoßen.

Das Ziel müsse aber sein, einen gemeinsamen Rüstungsmarkt zu erreichen. „Kein nationaler Verteidigungsmarkt hat die erforderliche Größe, um die europäische Verteidigungsindustrie ausreichend zu skalieren“, heißt es im Papier. Die Mitgliedstaaten kauften derzeit aber noch oft von Nicht-EU-Herstellern.

Damit sich das ändert und die Mitgliedsstaaten bis 2030 „volle Bereitschaft“ erhalten, ist SAFE an bestimmte Bedingungen geknüpft. Um das Instrument zu nutzen, müssen mindestens zwei Staaten bei der Entwicklung oder Beschaffung von Waffensystemen kooperieren, die die Fähigkeitslücken schließen. Besagte Lücken gibt es in sieben Bereichen, etwa bei Luft- und Raketenabwehr oder Munition, aber auch Drohnen, Cybersicherheit – und der „militärischen Mobilität“, also Verlegungswegen.

Mitmachen können auch Beitrittskandidaten wie die Ukraine und die Türkei sowie Länder, mit denen eine Sicherheitspartnerschaft geschlossen wurde. Es gibt einige Besonderheiten: So dürfen Waffen nur bei Unternehmen bestellt werden, die in Europa ansässig sind. Bei einfachen militärischen Gütern müssen Bauteile, die mindestens 65 Prozent der Gesamtkosten ausmachen, aus der EU, der Ukraine oder anderen europäischen Partnerländern stammen.

Das gilt auch für komplexe Waffensysteme, zusätzlich müssen europäische Hersteller hier die vollständige Kontrolle über das Design behalten, um neue Abhängigkeiten zu vermeiden. Zu China heißt es, seine Aktionen im Ost- und Südchinesischen Meer destabilisierten die Region. Zudem berge eine „Verschiebung des taiwanesischen Status quo“ das Risiko einer „größeren Störung, die tiefgreifende wirtschaftliche und strategische Folgen für Europa hätte“.

Auch die Ukraine nimmt eine wichtige Rolle ein: „Die unmittelbarste und dringendste Aufgabe für europäische Verteidigung“ sei die Unterstützung Kyivs. In dem Papier ist die Rede von einer „Stachelschwein-Strategie“: das Land müsse so gestärkt werden, dass es in der Lage sei, weitere Angriffe abzuschrecken und einen dauerhaften Frieden zu gewährleisten.

Die Kommission will also versuchen, die Bemühungen der Mitgliedsstaaten zu vereinheitlichen. Jetzt geht es aber vor allem um die Umsetzung. „Putin wird nicht abgeschreckt sein, wenn wir ihm das Weißbuch vorlesen“, sagte der neue EU-Verteidigungskommissar Andrius Kublilius. Gabriel Rinaldi