Die Neuen sind da
Mit einem grünen Filzstift malt Claudia Roth ihren Wahlkreis an, so wie es an diesem Dienstagmorgen alle Grünen-Abgeordneten tun, die eingezogen oder wieder eingezogen sind. Dann klebt die 69-Jährige einen Aufkleber mit ihrem Gesicht auf den Wahlkreis Augsburg. Vor dem Fraktionssaal der Ökopartei steht eine Deutschlandkarte mit allen Wahlkreisen: sehr viele sind weiß.
Trotzdem herrscht auf der Fraktionsebene des Bundestages am Dienstag eine gelöste Stimmung. Es gibt Willkommenspakete, eine Fotostation und Namensschilder. Vieles erinnert an die Einführungswoche im Studium. Wären da nicht die Parteigranden und Journalistinnen: Am Rande nimmt Außenministerin Annalena Baerbock das Baby von Hanna Steinmüller auf den Arm, schnell sind sie umringt von Kameras.
„Es fühlt sich verrückt an“, sagt Julian Joswig abseits des Trubels in der Presselobby. Der 31-Jährige ist über die Landesliste Rheinland-Pfalz eingezogen, nachdem er bei der letzten Wahl knapp gescheitert war. Auch dieses Mal sei es eng gewesen. „Es war absehbar, dass die FDP nicht reinkommt und damit war für mich klar, dass ich 10,2 Prozent der Zweitstimmen brauche“, sagt der Grünen-Politiker. „Am sehr späten Abend wusste ich dann, es sieht ganz gut aus, habe aber natürlich trotzdem gewartet, bis es schwarz auf weiß war.“ Am Ende standen 10,4 Prozent.
Es fühle sich an wie der erste Schultag. „Persönlich beginnt für mich jetzt ein neuer Lebensabschnitt“, sagt Joswig. „Das heißt natürlich auch zu schauen: Wie gestalte ich das Leben zwischen Berlin und Rheinland-Pfalz? Wie kann ich jetzt schnell ein Team aufbauen?“ Bis die fachlichen Zuständigkeiten feststehen, werde es noch dauern, bis Ministerien und Ausschüsse sortiert seien. Er will noch ein paar Tage in seinem alten Job in einem Thinktank arbeiten und die Tätigkeit dann stoppen.
Jeanne Dillschneider, Jahrgang 1995, fühlt sich gut aufgenommen: „Das Erste, was hier jeder fragt, ist: Wie kann ich helfen?“, sagt sie. Nicht einmal die Wohnungssuche in Berlin macht ihr große Sorgen: Weil etliche Abgeordnete ausscheiden, werde es wohl eine Art Börse mit Angeboten geben. Für alle Neulinge gibt es ein dreitägiges Programm: Nach der Fraktionssitzung stand eine Führung durchs Haus an, der letzte Punkt am Donnerstagnachmittag ist ein Vortrag zum Umgang mit der Hauptstadtpresse.
Vor dem Fraktionssaal der SPD bauen die Leute vom Catering die Rechauds auf. Es gibt Buletten, Wiener und Gemüsesticks. Nach und nach trudeln die Abgeordneten ein, die meisten kennen das Prozedere: Nur neun ganz frische Gesichter wird die Fraktion bekommen.
Eines davon ist der 30-jährige Truels Reichardt aus Mildstedt in Nordfriesland. Er wirkt nordisch gefasst, doch er sagt: „Das ist jetzt so ein Moment, in dem man erstmalig so richtig realisiert, was das Bundestagsmandat bedeutet.“ Er gebe zu, er fühle sich noch ein wenig „planlos“, so Reichardt, deshalb sei er froh, dass sich seine schleswig-holsteinische Kollegin Bettina Hagedorn „ein bisschen um mich kümmert.“
Zu Hause gebe es jetzt einiges zu regeln und zu organisieren, sagt der Sozialdemokrat. Er hat einen zweijährigen Sohn und ist Sozialpädagoge, im Parlament würde er sich am liebsten in den Bereichen Arbeit, Soziales und Familie engagieren: „Ist ja vielleicht nicht das Schlechteste, wenn im Bereich Familie mal ein junger Papa mit dabei ist.“
Etwas später ist die Union dran, um 15 Uhr findet die konstituierende Fraktionssitzung statt. Eine halbe Stunde davor kommt der 32-jährige Daniel Kölbl aus Pinneberg aus dem Aufzug und geht auf den langen Tisch zu, der am Rand aufgebaut wurde. Dort holen die Abgeordneten ihre neuen Unterlagen ab: einen vorläufigen Abgeordnetenausweis, eine BahnCard, Infomaterial.
„Also ich bin sehr froh, heute hier sein zu dürfen. Gestern Morgen hatte ich erst erfahren, dass es geklappt hat. Ich gehörte zu den Wahlkreisen, die durch die neue Wahlrechtsreform gefährdet waren“, sagt Kölbl. „Natürlich muss man sich erst mal ein Stück weit orientieren, aber ich bin voller Vorfreude, anpacken zu können“, sagt er. Obwohl ihm der Wahlkampf noch in den Knochen stecke, freue er sich einfach, dass es endlich losgehe.
Zu den praktischen Fragen: „Nee, eine Wohnung habe ich noch nicht. Die ersten Bewerbungen für Mitarbeiter sind aber schon eingegangen“, sagt Kölbl. Das gelte es in den nächsten zwei, drei Wochen alles zu regeln. Gestern habe er zunächst die erste Landesgruppensitzung der CDU Schleswig-Holstein gehabt. „Morgen gibt es Seminare, also so eine Art Bootcamp, wo die ersten wichtigsten Informationen kommen, wie man sich als Abgeordneter so zu organisieren hat“, sagt er.
Während Friedrich Merz bereits spricht, holt Ellen Demuth aus Rheinland-Pfalz ihre Unterlagen ab, ein Fernsehteam des SWR begleitet sie. Die 42-Jährige ist Mitglied des Mainzer Landtages, kennt also den parlamentarischen Betrieb. „Das fühlt sich schon komisch an, noch nicht mal 48 Stunden nach der Wahl“, sagt sie. Man sei die ganze Zeit im Tunnel des Wahlkampfs gewesen und jetzt gehe es auf einmal schon los. „Das ist ein bisschen aufregend. Und man sagt ja so schön, jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, sagt Demuth.
„Alle haben gute Laune, habe ich gerade im Aufzug festgestellt, und sind guter Dinge, trotz der großen Herausforderungen.“ Am Morgen habe sich die Gruppe der Frauen getroffen, der weiblichen Unionsabgeordneten, dann ihre Landesgruppe. „Und jetzt die große Fraktionssitzung, danach ist quasi erst mal Feierabend für heute“, sagt sie. Morgen dann die Schulung. „Dann bekommen wir die IT ausgeteilt und eine E-Mail-Adresse, damit es so ein bisschen losgehen kann“, sagt sie. Im März gebe es dann noch drei weitere Tage Schulungen und Workshops.
„Wir haben schon eine Information bekommen, dass wir provisorische Büros beziehen können, wo wir zu zweit zumindest ein bisschen arbeiten können“, sagt die CDU-Abgeordnete. Bis dann irgendwann die richtigen Büros fertig seien. Gabriel Rinaldi, Elena Müller, Peter Ehrlich