Wege zur gemeinsamen europäischen Verteidigung
Die Europäer müssen selbst für die Sicherheit der Ukraine und damit der EU sorgen, weil die USA sie im Stich lassen. Damit schiebt sich die Frage in den Vordergrund: Welche europäischen Armeen – oder welche europäische Armee – sollen sich als Bollwerk der russischen Militärmaschinerie entgegenstellen? Politiker und Expertinnen diskutieren schon lange über eine gemeinsame europäische Verteidigung. Dieses vage Konzept muss es nun in Rekordzeit in die Realität schaffen.
Teilbündnisse als Lösung: Der einzig gangbare Weg ist derzeit eine Koalition der Willigen, die mit gemeinsamen Projekten vorangeht. Während eine gesamteuropäische Armee noch Jahrzehnte entfernt ist, seien freiwillige Kooperationen eine realistische Option, sagt Stefan Bayer, Professor an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg. „Gruppen einzelner Länder, die gemeinsame Verteidigungsstrukturen aufbauen, können das derzeit existierende Vakuum füllen.“
Vorbild Pesco: Ansätze dafür gibt es bereits: die EU-Verteidigungsinitiative „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“. Unter ihrem englischen Akronym ist sie als Pesco bekannt, das steht für „Permanent Structured Cooperation“. Es gibt sie seit 2017. Bayer sieht sie als Blaupause für das Zusammenrücken europäischer Armeen für gemeinsame Einsätze. Länder, die an Pesco teilnehmen, müssen konkrete Zusagen bei Verteidigungsausgaben, Planung und Zusammenarbeit einhalten. Sie sind rechtlich bindend.
Entwicklung gemeinsamer „Fähigkeiten“: Pesco bietet einen Rahmen, um militärische Fähigkeiten koordiniert zu planen und zu entwickeln – mit direktem Bezug auf EU-Missionen. Seit 2017 sind mehr als 60 Projekte gestartet, einige bereits abgeschlossen. Mit einer „Fähigkeit“ ist beispielsweise die Möglichkeit gemeint, Soldaten und ihre Waffen schnell europaweit zu verlegen. Unter Pesco haben sich verschiedene EU-Mitgliedstaaten in ganz unterschiedlichen Konstellationen zusammengefunden:
– Kampfroboter: Im Projekt zur Entwicklung eines „integrierten unbemannten Bodensystems“ geht es um Roboterplattformen, die Bodentruppen unterstützen sollen. Unter der Führung von Estland sind Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Lettland, die Niederlande, Polen, Spanien, Tschechien und Ungarn dabei.
– Hubschrauberpilotenausbildung: Im „Helicopter Hot and High Training“ sind unter Leitung von Griechenland nur Italien und Rumänien versammelt. Pesco bedeutet also: Jeder darf, keiner muss. Diese Offenheit ist die Voraussetzung dafür, dass in Europa überhaupt etwas funktioniert.
Doch der Weg vom bunten Treiben der Pesco zu einer gemeinsamen Ukraine-Truppe ist weit. Bayer hat Zweifel, dass Kontingente einzelner europäischer Länder diese Aufgabe bewältigen könnten, und hält es daher für nötig, zusätzlich die Ukraine zu befähigen, sich selbst zu verteidigen. Hilfen für Kyiv hält er auch nach einem Friedensschluss für gut investiertes Geld.
Auch wenn Experten wie Bayer seit Jahrzehnten auf die Notwendigkeit einer wirksamen europäischen Verteidigung hinweisen, wurde die Gemeinschaft nun auf dem falschen Fuß erwischt. Wie lässt sich die Lage für die Zukunft verbessern? Ausgehend von kleinen Ansätzen für gemeinsame Einheiten könnten sich größere Verbünde von Ländern bilden, die zusammen Brigaden aufstellen, ausrüsten und finanzieren.
Europäische Brigaden: Ein erster Ansatz sind das 1. Deutsch-Niederländische Corps oder Eurokorps. Eurokorps verbindet Truppen aus Deutschland, Frankreich, Belgien, Spanien, Luxemburg und Polen, wobei eine erste Liste von kooperationswilligen Ländern bereits feststeht. In der Selbstdarstellung handelt es sich um „Streitkräfte für die EU und die Nato“ – genau das, was gebraucht wird. Bisher handelt es sich um eine Führungsgruppe von 1100 Soldaten, die 60 000 Soldaten befehligen können.
Was es vorerst nicht geben wird: eine europäische Armee. Die Idee einer europäischen Armee wird seit den 1950er-Jahren diskutiert, bleibt aber laut Militärexperte Bayer eine „Chimäre“. Eine Realisierung ist auch nach allem, was passiert ist, unwahrscheinlich. Denn die Gründung einer gemeinsamen Armee benötigt die Zustimmung aller Mitgliedstaaten – „und die wird es derzeit nicht geben“. Es reicht, wenn die Slowakei und Ungarn dagegen stimmen – und das Projekt scheitert.
Egoismus und Ineffizienz als Problem: Die Mitgliedstaaten haben zudem völlig unterschiedliche Prioritäten, um sich auf einen gemeinsamen Auftrag zu einigen. Außerdem müssten sie ihre Budgethoheit aufgeben. Sie müssten sinnvolle gemeinsame Ausrüstung zum besten Preis beschaffen, statt ihre nationale Industrie zu bevorzugen.
Durch diese zersplitterte Beschaffung geht riesiges Sparpotenzial verloren. Es gibt derzeit in Europa 17 Hersteller von Kampfpanzern. Für eine gesunde Konkurrenzsituation würden drei reichen. Eine Konsolidierung ist fällig – wie auch eine gemeinsame Beschaffung. Finn Mayer-Kuckuk