„Im digitalen Zahlungsverkehr werden wir zur Kolonie“
Donald Trump könnte noch zum Geburtshelfer einer echten Vertiefung des europäischen Binnenmarktes werden: „Vielleicht ist die neue US-Regierung ein Grund für Europa, sich schneller zu bewegen und sich mehr zu konzentrieren“, sagte mir Enrico Letta im Interview in Berlin.
Der Kommissionsberater, Hochschullehrer und ehemalige Premierminister hofft, dass sein Plan Schwung bekommt. Trump im Weißen Haus: „Das kann dazu beitragen, dass die Ideen meines Berichts schneller umgesetzt werden“, sagte er im Gespräch in Berlin. Dabei gilt, wie oft in der Politik, dass die Not handlungsleitend ist: Zölle auf EU-Produkte, wie Trump sie in dieser Woche ankündigte, könnten Europas Ehrgeiz wecken, sich unabhängiger zu machen.
In seinem im vergangenen Jahr vorgestellten Bericht über den Binnenmarkt strich er Energie, Telekommunikation und Finanzdienstleistungen heraus – als Bereiche, in denen die EU-Staaten ihre früheren Monopolisten, Staatsbetriebe oder Banken immer noch vor dem Binnenmarkt glauben, schützen zu müssen. „Sie alle sind mit der Frage der Sicherheit verbunden, die heute vielleicht das wichtigste Thema ist“, sagte Letta, der Präsident des Institut Jacques Delors mit seinen Einrichtungen in Paris und an der Berliner Hertie School. Mithalten können heißt für ihn, europäische Champions zu ermöglichen.
Seine Werbetour für die eigenen Ideen war in Berlin so weit erfolgreich, dass der Bericht Lob von Union, von SPD und Grünen erhielt. Merz zählte sein Werk neulich auf einem Wirtschaftsempfang in Berlin – zusammen mit einem Bericht Mario Draghis, auch aus dem vergangenen Jahr – zu den „wichtigsten europäischen Dokumenten“ seit Gründung des Binnenmarktes.
„Wir brauchen Fusionen zwischen etablierten Unternehmen“, sagte Letta. „Die Regierungen müssen aufhören, solche Fusionen zu blockieren. Sie haben immer die Vorstellung, dass die Kontrolle der etablierten Unternehmen in den drei Sektoren grundlegend ist. Ich denke, da müssen wir uns bewegen.“ Im Luftverkehr etwa ging es ja auch, obwohl die geplante Übernahme der früheren italienischen Staatsfluglinie durch die Lufthansa mehr als ein Jahrzehnt brauchte.
Einen europäischen Binnenmarkt etwa für Finanzdienstleistungen zu schaffen, ist eine langfristige Aufgabe mit vielen Gegnern bei lokalen Banken bis hin zu Regierungszentralen. Trumps Zölle könnten helfen, das Bewusstsein zu schärfen, hofft Letta. „Wir müssen eine Reihe von Maßnahmen vorbereiten“, sagte er. Trump greift im Warenhandel an – „wir müssen Vergeltungsmaßnahmen aber nicht nur im Bereich der Waren vorbereiten, sondern auch bei den Themen, bei denen wir ihn leichter in Schwierigkeiten bringen können“.
Das heißt: „Finanzen“, sagte Letta. „Meine Vermutung ist, dass die Hauptwaffe der Vergeltungsmaßnahmen im Finanzbereich liegt.“ Im Warenhandel mit den USA hat die EU einen Überschuss. Bei Dienstleistungen, finanzielle eingeschlossen, erzielen die USA einen deutlichen Überschuss von mehr als 100 Milliarden Euro.
Bei Handelsauseinandersetzungen geht es darum, beim anderen den Schwerpunkt zu finden, ohne sich selbst weh zu tun, also da, wo die Sache sehr in eine Richtung hängt. „Wir müssen den Markt integrieren, das wird dauern“, sagte Letta. „Aber wir müssen potenzielle Maßnahmen, die der anderen Seite wehtun können, jetzt im Blick haben. Sie müssen wissen, dass wir so etwas vorbereiten und bereit sind, es zu nutzen.“
Letta ist nicht allein mit dem Gedanken; er wird in Berlin und anderen Hauptstädten diskutiert. Er hofft, dass dabei eine Sache auffällt und zu langfristigem Handeln führt: „Das ist ein Bereich, wo wir bereits eine Kolonie sind“, sagte Letta. Kleines Beispiel: In Italien, seinem Heimatland, ist gerade eine Welle von Übernahmeversuchen im Finanzsektor ausgebrochen. „Die wichtigsten Berater dieser Fusionen sind alle die zehn fantastischen amerikanischen Investmentbanken“, sagte Letta. „Und auch im Bereich des digitalen Zahlungsverkehrs – wie bei Kreditkarten – werden wir zur Kolonie.“
Europas Geschlossenheit in der Frage wäre hilfreich. „Das große Risiko besteht darin, dass es in Europa Leute gibt, die glauben, an Brüssel vorbei mit Trump verhandeln zu können.“ Letta sagt voraus, dass solche Aktionen außer Fotos nicht viel bringen werden: „Wir sind alle schwach, wenn wir allein gehen, weil wir klein sind.“
Der Zeitverlust durch solche Aktionen bereitet ihm Sorgen, geht es doch darum, rasch eine Antwort auf die Frage zu finden, was tun, wenn die USA nun angekündigtermaßen nicht mehr im selben Maße zur Verfügung stehen als Garant europäischer Sicherheit.
Letta wirbt in seinem Bericht für eine begrenzte gemeinsame Schuldenaufnahme in Europa. Sein Ansatz ist, das ans Ende zu stellen, nicht an den Beginn der Debatte: Wenn der Finanzmarkt europäisiert wäre, also privates Geld etwa auch in anderen EU-Ländern arbeite, und wenn Verteidigung auch als eine Aufgabe der EU gesehen werde, „dann können wir einen gewissen fiskalischen Spielraum haben“, sagte Letta. „Wenn wir wieder mit der fiskalischen Kapazität anfangen, laufen wir Gefahr, nicht weiterzukommen.“