„Die Politik bedenkt oft nicht, was sie da beschließt“
Bürokratieabbau wird zu einem der großen Themen des Wahlkampfs. Nachdem laut Normenkontrollrat der Zuwachs an Bürokratiekosten zuletzt bereits gestoppt wurde, arbeiten nun CDU, SPD, FDP und Grüne an dem Thema. „Es gibt erstmals einen Mentalitätswandel in den meisten Parteien“, sagte Thorsten Alsleben von der wirtschaftsfinanzierten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) SZ Dossier. „Die Politik kann das Thema nicht mehr wegschieben.“
Auch Jörg Bogumil, Verwaltungswissenschaftler an der Ruhr-Uni Bochum, sieht Bewegung: „Die Voraussetzungen für Veränderungen sind günstig“, so Bogumil im Interview mit SZ Dossier. Dabei gehe es aber nicht nur um die Reduzierung von Vorschriften, sondern auch um einen Kulturwandel in der Verwaltung. Die brauche mehr Freiheit bei der Anwendung der vielen Vorschriften.
Alsleben verweist auf Umfragen, nach denen die Unternehmen die Bürokratie als Standortnachteil Nummer eins sehen. Als „politisches Signal“ fordert die INSM die Abschaffung von vier Ministerien (wirtschaftliche Zusammenarbeit, Familie, Arbeit und Bau). Deren Aufgaben sollen auf andere Häuser verteilt werden. Dahinter steht das Gefühl vieler Bürger, dass die Verwaltung immer größer wird.
Auf den gesamten öffentlichen Dienst bezogen ist dieser Eindruck allerdings falsch. Wenn man auf die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst pro 1000 Einwohner schaue, sei 1990/91 ein Höhepunkt erreicht worden, danach wurde stetig reduziert. „2018 waren wir auf dem Level von 1970“, so Verwaltungswissenschaftler Bogumil, seitdem gehe es wieder etwas nach oben. Dem Statistischen Bundesamt zufolge arbeiten zwölf Prozent aller Beschäftigten im öffentlichen Dienst.
Für jenen Teil dieser Arbeitnehmer, der tatsächlich für die Anwendung der vielen Vorschriften zuständig ist, gibt es seit Jahren ein Problem: „Der Staat reguliert unendlich viel mehr, als er überhaupt verwalten kann.“ Diesem Satz des früheren bayerischen Ministerpräsidenten und EU-Entbürokratisierungsbeauftragten Edmund Stoiber (CSU) schließt sich Bogumil an. „Die Politik bedenkt oft nicht, was sie da beschließt. Allein das Aufenthaltsgesetz ist zwischen 2015 und 2017 50-mal geändert worden, und das sollen die über 500 kommunalen Ausländerbehörden dann umsetzen. Was die Mitarbeiter in ihrer Ausbildung gelernt haben, können sie wegwerfen. Die sind nicht in der Lage gewesen, die neuen Regelungen rechtssicher umzusetzen.“
Selbst eine Partei wie die FDP, die mit dem Image als Bürokratiegegner wirbt, tappt in diese Falle. So hatten die Liberalen vorgeschlagen, dass sich Bürgergeldempfänger künftig einmal pro Monat mit ihrem zuständigen Berater treffen sollen. „Irrsinn“, sagte Bogumil, die Mitarbeiter hätten dann keine Zeit mehr für Beratung für diejenigen, die sie wirklich brauchen.
Zusammen mit dem früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, hat Bogumil kürzlich in der FAZ vorgeschlagen, Kommunen zu ermöglichen, „praxisferne Vorschriften einfach auszusetzen“. Die Ausbildung der Sachbearbeiter müsse mehr von der Praxis geprägt sein. „Es geht nicht, dass Rechtssicherheit wichtiger ist als Bürgerorientierung“, sagte Bogumil. Allerdings müssten die Vorgesetzten die Sachbearbeiter unterstützen und hinter ihnen stehen, wenn mal etwas schiefgehen sollte. „Wir sollten den Beschäftigten mehr Vertrauen schenken“, sagte auch der Kölner Regierungspräsident Thomas Wilk kürzlich bei einer Veranstaltung des Normenkontrollrates.
Für Bogumil geht es um nicht weniger als um das Ende dessen, was er „Misstrauensverwaltung“ nennt: „Wir vertrauen weder den Bürgern noch den Unternehmen.“ Auch die „Ideologie der Einzelfallprüfung“ müsse weg, Behörden könnten viel mehr mit Pauschalierungen arbeiten.
Dass es auch anders geht, hat der Gesetzgeber 2017 bewiesen, als er die Pflicht zur Einreichung aller Belege bei der Steuererklärung abschaffte und nun darauf vertraut, dass die Bürger sie für den Fall einer Prüfung aufbewahren. Nur zehn statt hundert Prozent aller Fälle zu prüfen, sei in vielen Bereichen möglich, sagte Bogumil.
Mit dem von der Bundesregierung neu eingeführten Praxis- und Digitalcheck für Gesetze soll unnötige Bürokratie in Zukunft vermieden werden. Die verschleppte Digitalisierung der Verwaltung erschwert allerdings, dass alle Behörden Zugriff auf bestimmte Informationen erhalten und diese somit nicht umständlich neu beschaffen müssen.
Eine bessere und bürgernähere Verwaltung würde auch die Demokratie stärken, meint jedenfalls die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“, zu deren Mitgründern Voßkuhle gehört. Jetzt müssen nur noch alle mitmachen, die ein Einzelinteresse an bestimmten Vorschriften haben. „Bürokratieabbau ist immer schwierig, auch wegen der vielen Interessengruppen“, sagte Bogumil.