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Tiefgang

Merkels Abschied von der schwäbischen Hausfrau

Wenn es um die wichtigsten Themen ihrer Amtszeit geht, räumt Angela Merkel in ihrem gestern veröffentlichten Buch „Freiheit“ keine grundsätzlichen Fehler ein. Sie steht zu ihrem Verhalten – in der Flüchtlingskrise, gegenüber Russland oder in der Eurokrise. Wenn sie etwas bedauert, dann meist taktische Fehler, aus denen sie vor allem schließt: Das passiert mir nicht nochmal.

Deutlich selbstkritischer ist Merkel allerdings mit ihrer Kommunikation und einigen ihrer meistzitierten Äußerungen. So schreibt sie über einen ihrer meistzitierten Begriffe, den von der Lebensweisheit der „schwäbischen Hausfrau“, verblüffend offen: „Im Nachhinein waren diese Sätze ebenso provinziell wie wohlfeil.“

Worum ging es? Die weltweite Finanzkrise war Ende 2008 nach der Pleite von Lehman Brothers auf ihrem Höhepunkt angelangt und Merkel war bereits klar, dass der Staat bald mit viel Geld wird eingreifen müssen. Sie hielt nur den Zeitpunkt der Entscheidung für zu früh und wollte bei einem CDU-Parteitag Anfang Dezember in Stuttgart „bei meinen eigenen Leuten mit diesem Spruch Eindruck schinden“.

Deshalb die Mahnung, dass man nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben kann, verpackt als Grundsatz der örtlichen Hausfrauen. Jetzt räumt sie ein, an den Sorgen von Hunderttausenden, deren Arbeitsplätze in Gefahr waren, vorbeigeredet zu haben.

Differenzierter fällt ihr Blick auf das Wort „alternativlos“ aus, das sie 2010, zu Beginn der Euro-Staatsschuldenkrise und beim ersten Hilfspaket für Griechenland prägte. Es ging, da ist sie sich weiterhin sicher, um den Schutz des Euro als Ganzes. Die rhetorische Frage, ob es nicht doch Alternativen gab, beantwortet sie in für die öffentliche Person Merkel ungewohnter Klarheit: „Klar, im Leben gibt es immer Alternativen. Auf die Spitze getrieben ist sogar der Sprung vom Dach eine Alternative – eine Alternative zum Leben.“

Trotzdem hat Merkel damals auf die Kritik reagiert und später immer gesagt, es gebe keine „vernünftige Alternative“. Sie räumt auch ein, dass sie mit dem Begriff der Alternativlosigkeit wohl indirekt den Namen der AfD mitverantwortet hat, eben als Alternative zu Merkel.

Noch immer verwundert angesichts der Wirkung, aber auch stolz, ist die Ex-Kanzlerin auf die beiden prägenden Sätze in der Flüchtlingskrise 2015. Es war am 31. August, als Merkel bei einem Vorgespräch mit ihrer damaligen Büroleiterin und jetzigen Mitautorin Beate Baumann unter anderem sagte: „Irgendwie werden wir das auch schaffen.“ Daraus wurde wenig später in der Bundespressekonferenz der Satz: „Wir schaffen das.“ Merkel schreibt, sie hätte sich damals nicht vorstellen können, dass ihre eigentlich „banalen Worte“ bald zu dem Vorwurf führen könnten, sie wolle alle Flüchtlinge der Welt nach Deutschland holen.

Wenige Wochen später kam dann auf eine Journalistenfrage die Antwort, wenn man sich für ein freundliches Gesicht gegenüber Flüchtlingen entschuldigen müsse, „dann ist das nicht mein Land“. Die Anfeindungen und persönlichen Beleidigungen, die Merkel für ihre Flüchtlingspolitik bis heute erdulden muss, beschäftigen sie offensichtlich mehr als andere Kritikpunkte. Aber sie steht zu dem, was sie als menschliches Gesicht in Notsituationen versteht und sieht eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich.

Überhaupt, das beschreibt sie immer wieder, kommt es in der Politik oft vor allem auf den richtigen Zeitpunkt an. 2019 kaufte sie eine Figur des Kayros, des Gottes der günstigen Gelegenheit, der ihr, so scheint es, im Leben öfter zur Seite stand.

Aber kann man die richtige Gelegenheit auch verpassen? Nur bei einem Thema räumt Merkel etwas verklausuliert ein, vielleicht nicht genug getan zu haben: beim Klima. Alles, was zum Klimaschutz getan wurde, sei nicht genug gewesen, um die Menschheit vor katastrophalen Entwicklungen zu bewahren. „All das wussten und wissen wir“ und doch sei immer noch unklar, ob die Menschen bereit sein werden, die notwendigen Entscheidungen für ihr Überleben zu treffen. „Diese Feststellung lastet schwer auf uns, mich eingeschlossen.“

Auch wenn man weitere Äußerungen wie ihr „Ich will Deutschland dienen“ (2005), die „Staatsräson“ (in Bezug auf Israel 2008) oder den „Scheidungsbrief“ von Kohl von 1999 dazu nimmt, wird doch klar: Auch vom berühmtesten Politikerleben bleiben am Ende nur wenige Sätze im kollektiven Gedächtnis.

Das liegt natürlich auch daran, dass es zum Beruf des Politikers gehört, sehr viel zu reden, aber wenig zu sagen. Das jedenfalls ist Merkel nun bei der Rückschau auf ihre Äußerungen auch aufgegangen. Und so rät sie im Epilog vor allem den jüngeren Politikerinnen und Politikern, „weniger Angst zu haben, auf konkrete Fragen konkret zu antworten“. Peter Ehrlich