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Tiefgang

Die Gratwanderung im Thüringer Landtag

Noch laufen die Verhandlungen über eine Brombeer-Koalition in Thüringen. Schon jetzt ist allerdings klar: Den Freistaat zu regieren, bleibt kompliziert. Wie die Vorgängerregierung hätte auch ein Bündnis aus CDU, BSW und SPD keine eigene Mehrheit.

Wie die Koalitionäre in spe mit dieser Situation umgehen wollen, findet sich auf Seite 17 des Sondierungspapiers. „Wir setzen auf Transparenz und eine engere Einbindung des Parlaments in die Regierungsarbeit“, heißt es da. Konkret wollen CDU, BSW und SPD ein sogenanntes prälegislatives Konsultationsverfahren einführen. Das bedeutet: Die künftige Regierung will den Landtag schon über zentrale Vorhaben informieren, noch bevor sich das Kabinett damit befasst hat. Und bei der Information bleibt es nicht: Die Fraktionen sollen auch „konsultiert werden“, können also ihre eigenen Positionen in den Prozess einbringen.

Das ist zwar auf den ersten Blick ungewöhnlich, zeugt aber von der Einsicht in die Notwendigkeit der Mehrheitsverhältnisse in Thüringen. Ohne die Hilfe der Opposition findet kein Gesetz der Regierung eine Mehrheit. Das Verfahren ist aber auch eine Gratwanderung: Der möglichen Brombeer-Koalition gegenüber sitzt ja nicht nur die Linke, sondern mit der AfD auch eine Partei, die in Thüringen als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. Und die in der ersten Sitzung des neuen Landtags gezeigt hat, dass sie nicht davor zurückschreckt, parlamentarische Prozesse im Chaos zu versenken. Insofern stellt das Konsultationsverfahren auch ein Experiment dar – die Thüringer würden damit neue Wege beschreiten, mit der AfD im Parlament umzugehen.

Zuerst stellt sich aber die Frage, wie das Ganze in der Praxis umgesetzt wird: Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU, Andreas Bühl, sieht zwei Optionen. Einerseits könne der Referentenentwurf eines Gesetzes nicht nur den Verbänden, sondern auch dem Landtag zugeschickt werden. So könnten nicht nur die Parteien der Opposition, sondern auch die Regierungsfraktionen Vorschläge einbringen. Bühl sieht darin einen entscheidenden Vorteil: „Wir könnten Änderungen, die sonst erst im parlamentarischen Verfahren passieren, schon vorher integrieren“, sagt er. Das könne den Gesetzgebungsprozess sogar beschleunigen.

Die andere Möglichkeit ist, bei „grundsätzlichen Themen“, wie Bühl es nennt, seitens der Regierung gar keinen Gesetzentwurf zu erstellen, sondern dem Landtag erst einmal Eckpunkte zu übergeben mit der Bitte um Rückmeldung. „Damit die Regierung schon frühzeitig weiß, was die Prioritäten der Landtagsfraktionen sind“, sagt Bühl.

Das heißt auch: Die Brombeer-Koalition, sofern es denn zu einer kommt, würde auch der AfD-Fraktion die Möglichkeit geben, ihre Vorschläge in den Gesetzgebungsprozess einzubringen. Das käme einem Strategiewechsel im Umgang mit der Partei gleich, von Isolation oder Ausgrenzung könnte keine Rede mehr sein, vielmehr würden die Akteure in Thüringen darauf setzen, dass sich Höcke und seine Leute selbst entlarven. „Wir wollen der AfD mit diesem Mechanismus erneut die Möglichkeit geben, sich konstruktiv einzubringen. Dann muss sie sich beweisen“, sagt Andreas Bühl. Dabei werde sich voraussichtlich einmal mehr zeigen, „dass die AfD eben nicht an einer konstruktiven Arbeit interessiert ist“.

Ähnlich sieht es BSW-Landeschefin Katja Wolf, ihre Partei hat bereits im Wahlkampf einen anderen Umgang mit der AfD gefordert, sie einseitig in die Opferrolle zu drängen, habe in den letzten Jahren nicht funktioniert, sagt Wolf. Vielmehr biete das Konsultationsverfahren nun die Chance, die Partei inhaltlich zu stellen. Und dann, so glaubt sie, schafft es die Partei selbst, „sich die Maske vom Gesicht zu reißen“.

Innerhalb der CDU blicken sie dabei auch bereits auf das Jahr 2029, wenn planmäßig die nächste Landtagswahl ansteht. „Die Thüringer haben Veränderung gewählt“, sagt Andreas Bühl. „Und die sollen sie auch bekommen. Dann ist 2029 der Punkt, an dem sich die Wähler fragen müssen, ob sie noch einmal die destruktive AfD wählen wollen oder ihre Stimme lieber einer anderen Partei geben, die gezeigt hat, dass es Veränderungen gegeben hat“, sagt er. Daher dürfe man der AfD nicht hinterherlaufen, müsse aber sehr wohl ihre Themen aufgreifen, weil sie die Thüringer eben umtrieben.

Außerdem sei mit der Einbindung anderer Fraktionen keine Rechtsfolge verbunden, sprich die Landesregierung könne sich die Vorschläge der anderen einfach ansehen und abwägen, was sie davon aufgreift und was nicht, sagt Bühl. „Aber, wenn die AfD einen guten Vorschlag macht, warum soll man das nicht prüfen“, sagt der CDU-Politiker.

Die Strategie ist nicht ohne Risiko, die AfD träumt von einer Regierungsbeteiligung, professionalisiert sich dafür immer weiter. Wenn sie ihre Inhalte nun auf diesem Weg in Gesetze einspeisen kann, könnte ausgerechnet die Höcke-AfD von sich behaupten, ganz normaler Teil der politischen Landschaft zu sein – und wiederum selbst mit dem Argument werben, für Veränderung gesorgt zu haben. Tim Frehler

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